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20

Es war so viel mehr gewesen als Verlegenheit, was Matthias an jenem Nachmittag empfand. Sein Blut, das Blut wahrscheinlich seiner Mutter in ihm, hatte sich erinnert, hatte sich geschämt; er bewahrte den nachhaltigsten Eindruck aus jener Stunde, obwohl natürlich seine Pein sich milderte. Doch er verschob es, seiner Absicht gemäß mit Lena die Zukunft zu bereden, er verschob es hauptsächlich, weil er sie glücklich sah …

Nach der Rückkehr mied er den Verkehrskreis seiner Freundin, jedoch nicht immer vermochte er sich fern zu halten. Und Einen Menschen wenigstens gab es, den wiederzusehen es ihn nach der ersten Begegnung fast leidenschaftlich trieb. Nicht als ob in diesem Falle der gefühlte Abstand geringer gewesen wäre, er war besonders groß, er war ungeheuer, – aber hier ihn zu fühlen, war süß.

Es handelte sich um einen Schauspieler von weitberühmtem Namen. Was diesen Mann kennzeichnete, war der außerordentliche Ernst in jedem Wort und jeder Bewegung, ein edler, freundlicher Ernst, der sich von aller Mimenfeierlichkeit tief unterschied. Matthias hörte sagen, daß bei gewissen Theaterproben, die man nicht eben schwer nahm, die Muntersten von ihren Späßen zur Sache zurückkehrten, sobald Rümelin sich zeigte: hochgewachsen, mit seinem männlich freien, starklinigen Gesicht, das von einem paar tief eingesenkter, ausnehmend guter und kluger Augen beherrscht war. Die Art dieses Künstlers war so bezwingend, so überzeugend, daß sie sogar seinem heimischen Dialekt, einem süddeutschen Dialekt, den er in keiner Minute zu verleugnen vermochte, Würde und Kraft verlieh.

Gegen Matthias zeigte er sich besonders freundlich und umgänglich, ohne daß er dazu gelangt wäre, die Haltung des jungen Menschen, eine Haltung scheuen Respekts, zu verändern. Und doch wäre zu Übergängen Zeit und Gelegenheit gewesen; Rümelins Besuche bei Frau Gontard waren häufig. Sein starkes Bedürfnis, ideell in die Dichtungen einzudringen, deren große Figuren man ihm übertrug, ließ sich gesprächsweise am angenehmsten befriedigen; und wenn ihm gewiß Frau Gontards schauspielerische Grenzen bekannt waren, – um so höher schlug er ihre Fähigkeit an zu erfassen, zu überlegen und darzulegen. Matthias war gegenwärtig, ohne stets folgen zu können; mitunter sogar, versinkend in den Anblick des bedeutenden Gesichts, vergaß er völlig zuzuhören und hätte aufschreckend gewünscht, ungesehen an seinem Platze zu sitzen …

Notabilität an und für sich war es keineswegs, was ihn einschüchterte. Vielleicht hatte er noch gar nicht die Möglichkeit, sie zu schätzen. Jedenfalls bedeutete sie ihm nichts dort, wo er sie an Personen geknüpft fand, die ihm von geringerer Artung schienen.

Ein noch junger Herr stellte sich einige Male bei Frau Gontard ein, der Matthias' geheime, aber gründliche Heiterkeit erregte: ein blonder Heldendarsteller von vulgärer, viel gerühmter Jünglingsschönheit, an dem Matthias alles, von der Manier, die überhellen Handschuhe abzustreifen, bis zu den großspurig vorgebrachten Nichtigkeiten seiner Unterhaltung, den schlechtesten Stempel zu tragen schien. »Nein, Lena, dieser Ernesty, was für ein Konditorjunge!« sagte er einmal nach einer solchen Darbietung.

»Woher weißt du denn das?«

»Wissen?« fragte Matthias. Er wußte gar nichts. Aber Ernesty war wirklich einmal Konditor gewesen.

Es fehlte Matthias im Ganzen nicht an natürlichem Urteil, und oft, wenn sie nach einer Aufführung irgendwo miteinander speisten, und Frau Gontard ihn nach seinen Eindrücken fragte, empfand sie überraschende Wahrheit in seinen Bemerkungen. Übrigens war es ihm nicht entgangen, daß seine Freundin des Enthusiasmus bedurfte, daß ihr Selbstbewußtsein auf nicht allzu festen Füßen stand. War es da nicht seine Pflicht, sie zu stützen …

Im Grunde blieben ihm ja die zusammengesetzten Frauenfiguren und blieben ihm auch die Werke selbst, in denen Lena sich zeigte – Meisterwerke oder nicht – einigermaßen gleichgültig. Was den jugendlichen Geist aufregt, ist das Rührende und das Grandiose, und nur in solchen Fällen eigentlich, in denen es an unmittelbar rührende oder erhabene Worte geknüpft erscheint. Der junge Mensch ist der rechte Anbeter und Adept des Wortes. Der Wirklichkeitskern ist ihm gleichgültig, ja die sich vordrängende Lebenstreue eines Kunstwerkes könnte ihm ein Grund sein, es nicht für ein Kunstwerk zu halten. Es gehört schon Reife dazu, in der Wiedergabe realer Zustände das Dichterische und die Idee zu erkennen. Auch Matthias maß, was er vorgeführt sah, ganz mit den Maßen seines täglichen Urteils. Und hätte er sich seinen Standpunkt einmal klar eingestanden: dieses gesamte moderne Theater wäre ihm wohl als ein unnützes Duplikat des wirklichen Treibens erschienen. Doch gerade, weil er es mit solcher Einfachheit und Naivität hinnahm, blieben ihm die Augen offen für Treue und Wahrheit des Spiels.

Er erinnerte sich etwa an Rümelin und sagte: »Das Großartigste ist, wie er sich mitten in der Bedrohnis auf die Kante seines Schreibtisches setzt und summt und mit den Beinen schlenkert. Von da an liebt man ihn erst und glaubt an ihn.« Oder er sagte zu Frau Gontard: »Einiges hast du heute noch besser gemacht als das vorige Mal. Du weißt, in der Szene, in der du so maßlos verzweifelt bist … Kürzlich hast du da ganz hoch gesprochen, beinahe gekreischt vor Verzweiflung und das war auch sehr gut, aber heute hast du fast tonlos gesprochen, einige Male sogar vollständig tonlos. Man sah nur deinen Mund sich bewegen, aber die Worte kamen nicht. Das war ausgezeichnet …«

Er hütete sich, Lena zu gestehen, wie wenig er die Gestalten der Frauen liebte, die sich so eingehend mit ihrem Schmerze beschäftigten. Er hätte es auch kaum auszudrücken gewußt, daß nach seinem Gefühl das Leiden etwas zu Ernstes und zu Hohes sei, um interessant gefunden zu werden. Aber in irgend einer Art widerstrebten ihm diese Menschen von bewußter Zusammengesetztheit, die Lena so vortrefflich darstellte, weil sie Wesen waren von ihrem Wesen. Irgendwie war es vulgär, irgendwie war es Knechtsart, sich so zu betasten, sich so zu lieben und zu verzärteln.

»Du veränderst dir niemals das Gesicht?« fragte er Lena, »du schminkst dich auch beinahe gar nicht, du machst dich nicht größer, behältst immer dein Haar?«

»Nun, in vierzehn Tagen wirst du mich einmal blond sehen – und auch ›größer‹.«

»Oh, ich finde nicht, daß du anders aussehen solltest, nur … es fiel mir auf.«

Er zog es bei Weitem vor, Lena am Pulte lesen zu hören, und da alle Welt ihre uneigennützige Bereitwilligkeit kannte, so gab es dazu schon jetzt, bei Beginn des Herbstes, mehrfache Gelegenheit. Sie brachte dann Balladen oder ältere Lieder oder auch kurze Erzählungen zum Vortrag, in einer trauervollen Weise, die berühmt war, und die Matthias naheging. Obwohl seine Tage nicht zulänglich ausgefüllt waren, so hatte er doch die Fähigkeit, für sich im Stillen zu lesen, fast eingebüßt – eine Folge vielleicht der Bekümmernis, des Druckes, die nie völlig von seinem Herzen wichen. Frau Gontards Vorlesungen bedeuteten ihm um so mehr.

Angespannt lauschend saß er auf seinem bevorzugten Platze, die großen, wohlgeformten Hände korrekt auf die Kniee gelegt, im schwarzen Rock von vortrefflichem Schnitt. Er blickte auf Lenas blasses Gesicht, dessen schmale Lippen sich im scharfen Lichte der Leselampe öffneten und schlossen. Er wandte nicht den Kopf, er spendete keinen Beifall. Mitunter war die Wirkung einer Zeile so stark bei ihm, daß er fror, schauerte, seine Augen schließen mußte.

Einmal aber, es war mitten in einer Dichtung, die von Frühling und Sonne glänzte, unterlag er anderen Einflüssen. Der Zweck der barmherzigen Veranstaltung drang ihm ins Bewußtsein: es handelte sich um blinde, arme Kinder. Die strahlenden Verse schallten an ihm vorbei, ein schmerzlicher Ekel, unerklärlich zunächst ihm selber, floß durch seine Brust.

Nein, es war nicht recht, im erleuchteten und eleganten Saal mit schönen, erfreuenden Worten Förderung zu suchen für Wesen, die vom Licht und von der Freude durch schwarze Mauern auf ewig abgeschieden waren. Die so handelten, meinten es redlich, aber die redliche Meinung genügte nicht. Was aber genügte? Matthias hörte die dunkel modulierende Stimme seiner Freundin wie aus unbetretbarer Ferne … War Lena nicht doch im Recht? Genügte es nicht zu wirken, war dieses Wort »Opfer«, das sich ihm zudrängte, nicht ohne allen nützlichen Sinn? Ich weiß gar nicht, was ich will, sagte Matthias zu sich selber …

Aber als sie zu Hause einander gegenüber saßen und Lena auf sein verschlossenes Gesicht hin seine Hand nahm und ihn befragte, gestand er zögernd. Frau Gontard ließ seine Hand los, sah ihn mit einem ungehaltenen, fast bösen Ausdruck an, wie er ihn nicht bei ihr kannte. »Das wollen wir lieber lassen«, sagte sie. Fast im selben Augenblick aber glitt über ihr Gesicht ein Schatten der Reue und der Scham. Matthias sah es nicht.

Er hielt den Kopf gesenkt. Unmöglich war es ja, zu entgegnen, was er als Einziges dachte. Er dachte: Es ist nichts mit allen Vorträgen für die Blinden, mit Komiteesitzungen, mit eurer Wohltätigkeit … Denn, wem es Ernst wäre zu helfen, zu erlösen, der nähme ein spitzes Eisen und bohrte sich's ins eigene, sehende Auge …

Matthias wußte natürlich, daß dies ein Gedanke ohne Vernunft war.

 


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