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Die Aufführung dieses nordischen Schauspiels übte auf Matthias eine mächtige Wirkung. Nicht als ob ihm der Gehalt des Stückes völlig erreichbar oder gar besonders gemäß gewesen wäre, – um die Wahrheit zu sagen: er begriff wenig davon, weniger als er sonst wohl zu begreifen pflegte. Vielleicht wäre er später nicht fähig gewesen, auch nur den Hergang einigermaßen klar und richtig wiederzugeben. Die Figuren, die sich um diese Generalstochter stellten, ihrem Schicksal zum Ablauf verhalfen, sie waren seiner Aufmerksamkeit nur lästig, und was sie vorbrachten, bedeutete wenig mehr denn Gewäsch für ihn. Er starrte auf seine Freundin, als hätte er sie nie vor Augen gehabt …
Die Kritik war am andern Tag mit Frau Gontards Leistung nicht unbedingt zufrieden, ja es gab Blätter, die ihr mit einem Unterton von Spott einfach die Fähigkeit absprachen, diese anspruchsvolle, gleißende Nordländerin zu verkörpern, und ein Rezensent, der sich wahrscheinlich witzig glaubte, lud sie ein, recht bald zu der »dunkelhaarigen, zappligeren Hysterie« ihrer gewohnten Rollen zurückzukehren. Vielleicht hatte Frau Gontard wirklich nicht die Mittel zu einer überzeugenden Hedda Gabler. Das verhinderte nicht, daß Matthias wie in einem Krampfe auf seinem Eckfauteuil saß und abwechselnd fror und vor Glut erstickte, und daß er, alles in allem genommen, Lena in dieser Stunde zum ersten Male liebte …
Sie hatte keinen Teil dieser Rolle in seiner Gegenwart gelernt. Wie eine Kette von elektrischen Schlägen wirkten nun die kalten Bemerkungen auf ihn, mit denen Hedda gleich zu Anfang diese arme, altmodische Tante abtat. Er zitterte bei der lieblosen Szene mit dem Hut, er preßte seine Hand gegen den Mund und grub seine Zähne hinein … »Ja – ich denke«, sagte Hedda ennuyiert und böse zu Jürgen Tesman, und Matthias fühlte in Tesmans Seele hinein den Peitschenhieb und schauerte in einer peinvollen und süßen Mitempfindung.
Oh, er mißverstand alles, kaum eine Ahnung leuchtete ihm auf von der geheimen Sehnsucht und Herzenskrankheit dieser Hedda, die ja im Grunde selber ein beleidigtes und zertretenes Wesen ist; er sah nur überlegene, hochfahrende, mißhandelnde Blicke und Gesten, er sah dies ihm einst vertraute Gesicht, das verjüngt, verschönt und ins Kalte, Herrinnenhafte stilisiert war; und er beugte sich, litt, genoß und betete an. Nur auf Augenblicke kam es ihm recht zum Bewußtsein, daß die Frau, die dort oben so böse und souverän schaltete, seine gütige Freundin sei; und in seinem ungeordneten und ungefestigten Knabengeiste verwirrte sich Wahrheit und angenommene Larve. Ja, zum ersten Mal gehörte Lena zu jener geringen Zahl auserwählter Frauen, auf die es ankam … Dort oben ging sie umher als eine von den Fürstinnen, die je und je das Ziel der unterwürfigen Sehnsucht waren …
Mit einem Entschluß, zu dem ihn die gesteigerte Stunde fähig sein ließ, suchte er nach dem zweiten Akte den Bühnenzugang. Ungern ließ man ihn passieren, und erstaunte Blicke folgten ihm in das Plankenlabyrinth, in das er sich wagte. Besuche hinter den Kulissen waren eine Seltenheit hier, fast galten sie als ungehörig. Er erfragte sich schüchtern die Loge.
Ohne Gesellschaft, unbeschäftigt, saß Frau Gontard auf dem einzigen Fauteuil, den das Kämmerchen an Stelle eines Ruhebettes enthielt. Matthias war in seiner Verwirrung eingetreten, ohne zu pochen … Sie stieß einen kleinen, freundlichen Schrei aus. »Aber Junge,« sagte sie, »was kommen dir für Einfälle? Liest du französische Romane, neuerdings …?«
Sie hielt inne, wie sie im Schein der elektrischen Leuchte über dem Toilettentisch Matthias' Gesicht sah. »Was ist dir denn, du bist ja ganz echauffiert …?«
Aber er war schon vor ihr niedergesunken, ohne alle Rücksicht auf seinen Anzug, und hielt ihre Kniee umklammert, das Gesicht in den Falten des Kleides. Sie wiederholte ratlos: »Was ist denn, sage doch, was dir ist …« Ihre Beziehung war so ruhig, – Lena blieb weit davon entfernt, an ein Auflodern von zärtlicher Ekstase zu denken.
Er stammelte: »Lena, du bist so herrlich … es ist so herrlich, oh so unaussprechlich süß …« Und er hob sein verwirrtes Gesicht zu ihr auf.
»Wie denn?« fragte sie, lächelnd aus ihren umschminkten Augen, »spiele ich so schon?«
Er neigte mit schwärmerischem Blick, in vager Bejahung, das Haupt. Er atmete tief und laut, beinahe klang es wie ein Stöhnen. Schließlich stand er neben ihr, den Arm um sie gelegt …
Er erklärte nichts, was hätte er vorbringen sollen … Zwar wußte er ungefähr, zwar sagte ihm sein Blut mit einiger Deutlichkeit, was ihn an diesem Abend entzückte. Aber damit war es nicht in Worte gefaßt. Und zudem, wenn die Worte sich einstellten, würde nicht Lena aus ihnen erfahren, daß er sie heute zum ersten Mal wahrhaft schön und liebenswert fand, daß er sich ihr bis heute im Grund nur immer gefügt hatte …
Aber zum Glück drang sie nicht weiter auf eine Erklärung. Sie lächelte froh, richtete sich im Sitzen ein wenig zu Matthias empor, und vorsichtig, die überroten Lippen gespitzt, küßte sie ihn auf den Mund. Es war kaum ein Kuß, was er da empfing, es war wenig mehr als eine Andeutung, aber ihm schien es sein erster Liebeskuß zu sein. Und sich beugend preßte er sein Gesicht so fest in ihre ruhenden Hände, als wollte er sich in ihnen vernichten.
»Aber du tust mir ja weh, lieber Narr,« sagte sie mit zärtlichem Vorwurf. »Und da ist meine Glocke …«
»Fängt es schon wieder an,« fragte Matthias ganz blaß und ein wenig taumelnd auf seinen Füßen, »mußt du hinein … Aber bitte, bitte, Liebste, Schönste, gehen wir nachher nicht zu den Andern!«
»Nicht?« sagte sie mit neuem Erstaunen, »weißt du, das kann ich nicht gut … Und wir müssen doch beide auch essen …«
Er wiederholte, flehend beinahe: »Nicht mit den Andern! Zu dir nach Hause, gleich …«
Frau Gontard wurde rot und spürte es und fand es selbst verwunderlich. Gleichzeitig erkannte sie, daß Matthias' Ungestüm sie ein wenig stolz machte. Wirklich, ihr Herz pochte.
»An unsrer gewohnten Ecke also,« sagte sie, »gern Lieber, gern …«
Matthias saß wieder auf seinem Eckplatz, gewaltsam unbeweglich, völlig gesammelt in seinen Blicken … Nichts Rechtes faßte er auf von Lövborgs Schicksal, nichts vom Leiden der kleinen Frau Elvstedt, nichts selbst von Heddas Leiden. Aber er hörte Heddas Worte: »Durch die Brust? – Ja, ja, die Brust ist auch gut.«
Und dies Wort, dessen Untergründe ihm verborgen waren, vollendete seinen Rausch. Aus dem Gewebe der Dichtung, das vor seinem unkundigen Blick in Fetzen zerriß, stieg die Frau in arger Größe ihm entgegen, die Fordernde, die Gewaltige, die Vernichterin. Sie, das unentrinnbar lockende Ziel aller Anbetung, sie, deren unachtsame Hände in gleichgültigem Genießen das verwundete Tier zum Tode bringen …
Wie war sein armer Kopf weit vom Sinn dieser mit Exaktheit erschütternden Kunst. Dumpfe Begriffe von ungeheuerlicher Allgemeinheit schlossen sich ihm mit dem Nächsten, dem Wirklichsten zusammen. War er nicht der Geliebte dieser Frau, dieser Fürstin, hatte er sie nicht gewonnen, hatte er nicht das Recht erobert, sich in ihr zu vernichten? Holde, starke Lena …
Der Ausgang des Spieles kümmerte ihn wenig. Hedda tötete sich, nicht wahr? Warum – gleichviel. Es war für diesen jungen Geist naheliegend und einleuchtend, daß Personen von so stolzer, so gebietender Art hinter einem Vorhang, der sich schloß, nicht mehr als Lebende zu denken waren. Auf eine großartige Weise mußte sich ihr Schicksal erfüllen, und der Tod mit seiner Macht war als letztes Siegel für ihre Erwähltheit eben gut genug. Holde, große Lena! Sie lebte, und er lebte durch sie …
Er riß vor der Garderobe seine Überkleidung an sich, gönnte sich in der Enge nicht erst die Zeit, sie anzulegen, und gelangte durch eine Nebentür hinaus.
Es galt dennoch zu warten. Abseits von den wegflutenden Theatergästen, in einer kurzen, leeren Nachbarstraße, stand er still. Die Nacht war milde und windlos geblieben. Er nahm seinen Mantel um, ohne ihn über dem Frackhemd zu schließen, und wanderte mit einer Gemessenheit, zu der er sich zwingen mußte, die zweihundert Schritt bis zur Kreuzung. Dort Halt zu machen, gelang ihm nicht, seine Bewegtheit verlangte, daß er sich bewege. Und immer künstlich sich zügelnd schritt er das leere Trottoir auf und ab, pochenden Herzens, ein Rauschen seines Bluts in den Ohren, wie einer, der vor dem ersten großen Alleinsein mit der geliebten Frau steht. So aber war es.
Derart erfüllte das Durchlebte sein Herz, daß er nicht einmal Ungeduld verspürte. Doch kam es ihm endlich vor, als warte er lange. Er nahm seine Uhr und fand, daß er fast seit einer Stunde hier unter den Gaslaternen marschierte.