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32

Matthias stand in dem kleinen, hellen Raume, den man ihm nach der Promenade und dem Meer hinaus, jedoch im obersten Stockwerk zugewiesen hatte, und blickte auf den Nachmittagskorso, der in der strahlenden Sonne vorbeizog. Seit seiner Ankunft vor Stunden hatte er das Zimmer noch nicht verlassen, und sogar nachdem seine Toilette beendigt war, kaum einen Schritt auf dem Teppich getan. Er hatte auch nicht geklingelt, so war er völlig allein geblieben, und es schien ihm, während er da am hohen schmalen Fenster stand, leicht angelehnt ans schmiedeeiserne Gitter, das bis zur Höhe seiner Hüften reichte, daß kein Mensch auf der Welt so allein und vergessen sein könne als er hier in dieser Hotelkammer. Und wenn er bis zum Abend so stünde, und die Nacht hindurch und wieder einen Tag und noch einen, niemand würde in diesem Wirtspalast kommen, um nach ihm zu sehen, und erst wenn die Rechnung fällig wäre, also nach einer Woche vielleicht, vielleicht erst nach einem Monat, würde man ihn suchen … Nichts würde sich verändern, nichts ihn antreiben, einen Schritt zu tun … seiner Tat entgegen.

Er sagte sich freilich, es sei nicht das erste Mal, daß er mit gewaltsamem Ruck unerträgliche Verhältnisse zerreiße und, ganz auf sich gestellt, in das Unbekannte und Einsame entlaufe. Aber damals, bei seiner Flucht aus dem Lehrershaus, waren doch die Umstände anders gewesen als heute, da er ohne alle äußere Nötigung etwas so Ungeheueres, etwas so Phantastisches sich vorgesetzt hatte. Seine Gedanken schritten nach rückwärts. Sie gelangten zurück bis zu den Seinigen, aber ohne dort irgend einen Halt und Trost zu finden. Nicht mehr wirkende Wirklichkeit besaß für ihn die Heimat als jene flüchtige Vision von ihr im Frühschein der vorvergangenen Nacht …

Was ihn von den Seinen abtrennte, war Schuldbewußtsein. Er war einer Verbindung mit ihnen nicht mehr würdig, dies hatte sich ihm ein für allemal ins Herz geprägt, als er damals aus dem Schlafzimmer der Lehrersfrau in seine Dachkammer hinaufstieg. Wohl empfand er den Antrieb, sie teilnehmen zu lassen, als sodann jene Summe Geldes ihm in die Hand gegeben wurde. Aber dies Geld gehörte ihm nicht; er wagte weder vor Lena noch vor sich selbst, einen Teil davon abzutrennen. Und die Briefe, die er seinem ersten, nie beantworteten, folgen ließ, schrieb er in einem mechanischen Pflichtgefühl, ganz ohne Hoffnung. Alle blieben unerwidert.

Hier, ans Gitter gelehnt, gedachte er jenes letzten, der vor einigen Wochen zurückgekommen war, mit dem Vermerk, der Adressat sei verzogen. Matthias hätte sich bemühen, er hätte nachforschen können, aber dies schien ihm verboten. Der Vater war nicht nur »verzogen«, er hatte sich ihm, seinem Sohne, entzogen; dies war der letzte Grund der Veränderung. Entscheidend waren sie getrennt, nichts vermochte ihn mehr dem Vater zu nähern, der so männlich, so vergnügt, so lebenstüchtig war. Matthias wußte ja nicht, in welch eilendem Verfall diese Männlichkeit sich befand.

Susa und die Mutter? Es kam vor, daß seine Sehnsucht sich zu ihnen wandte, und immer war es dann, als trete in solchen Momenten etwas hervor, was insgeheim ohne Unterlaß wirkte; als habe er irgendwo, tief unten, auch nicht für einen Augenblick diese matten und duldenden Frauen je vergessen, als sei sein ganzes Leben nichts als Tasten nach ihrer Art gewesen …

Welche Stunde jetzt, welche tief tatenlose Stunde! Nicht einmal seine Phantasie vermochte zuzupacken und das, was kommen sollte, ins Licht des Wahrscheinlichen zu ziehen. Während er noch immer stand und auf die leuchtend elegante Menge sah, die drunten langsam promenierte, erinnerte er sich an jenen Morgen auf dem Arbeitsamt, da ihm für den kommenden Tag Beschäftigung im Depot der Straßenbahnen zugesagt wurde. Die Aussicht erregte ihn damals, er verbrachte einen Teil der Nacht ohne Schlaf, weil es ihm unmöglich war, sich dies vorzustellen: das Depot, die farbigen Wagen mit den Riesennummern, leer und in Menge … sich selbst an Rädern scheuernd oder mit einem Lederlappen die Glocke blank reibend. Der Tag gerade fiel ihm ein …

Matthias zog seinen Dolch hervor, entblößte ihn und ließ die krumme Klinge in der fröhlichen Sonne blitzen. Es half ihm zu nichts. An diese nahe Zukunft war nicht zu glauben, sie war zu erfüllen …

Und da, mit einem Blitzen, überkam Matthias, aber ganz flüchtig, ganz ahnungshaft, ein leichterer Aspekt des Lebens. War er denn nicht ganz frei noch und in keiner Weise zum Ungeheueren genötigt? Wohl … er hatte etwas davon an Lena geschrieben, aber würde Lena zu guter Letzt nicht am frohesten sein, wenn nichts geschähe? Und nahm man einen solchen Brief überhaupt wörtlich …

Er selbst aber, – nun, er saß hier an einem Freudenorte, mit recht viel Geld in der Tasche, frei, zu nichts verpflichtet, zu gar nichts, und jung. Wenn er jetzt seinen Hut aufsetzte, den hübschen Hut, und seinen Mantel über den Arm nahm, seinen hübschen Herbstmantel aus dunklem, leichtem Wollstoff, und hinunter ging und sich zwischen die Leute auf dem Sandwege mischte und gemächlich unter ihnen spazierte, – so war nichts geschehen, so war eben nur ein Gedanke verscheucht, und von ihm selber ganz allein hing es ab, daß auch ferner nichts, gar nichts zu geschehen brauchte …

Nicht das Edelste seines Herzens, was sich da nach oben kehrte! Aber der wunderliche arme Junge kostete vielleicht zum ersten Mal von dem tröstenden, trügenden, dem göttlichsten Gute, das dem Menschen zugeteilt ist: dem Bewußtsein der Freiheit.

 


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