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Sehr früh pflegte Matthias in seinem Zimmerchen zu erwachen, das unter dem Giebel lag, und sein erster Blick fiel auf die strahlende Bucht. Er sprang auf, nahm ein Tuch um und lief durch das öde Haus hinunter ins Freie, hinunter zum Meere, hinein in die Flut. Bald schon im Frühjahr hielt er es so und spät noch im Herbst …

Nahe der Badestelle befand sich der Ort, wo in flachen, bootähnlichen Eisenkästen gewisse Tiere, die sich schwer an die Entbehrungen der Gefangenschaft gewöhnen, einer Vorhaft ausgesetzt wurden, – eingeschlossen zwar, aber durch schmale Ritzen noch in Berührung mit dem freien Element. Diese kleinen Galeeren hatte Matthias selber mit Tauen und Ankern mühsam befestigt. Bei nächtlichen Stürmen nun kam es vor, daß sie sich losrissen, daß sie gegen die Felsen des Ufers geschleudert wurden und zerbrachen, und daß die Gefangenen im Unwetter die alte Freiheit zurückgewannen. Niemals brachte es Matthias zu einem rechten Bedauern, wenn er am Morgen die Stelle leer fand …

Schauernd in der Kühle lief er zurück ins Haus, vollendete Waschung und Anzug; bald stand er unten in seiner Halle. Und er ging umher an den Bassins: an denen, die flach und eintönig gehalten waren wie die Sandwüsten des Meeres, deren Bewohner sie beherbergten; an den zahlreicheren mit künstlichem Grottenbau, in denen die Tiere des felsigen Küstenlandes lebten; an den stillen Gläsern, die an der Innenseite des Raumes auf Regalen gereiht standen, wo schonungsbedürftige, weiche Flutwesen meist ohne Regung saßen; und an den eingesenkten Fischbecken der Mitte, in denen Blasen aufstiegen und ewig ein blitzendes Zucken unter dem Wasserspiegel war.

Er kannte jeden Winkel und jedes Geschöpf. Kein Geschöpf aber von allen erkannte ihn … Für jedes von ihnen war er so fremd, so unseiend, wie für die gestorbenen Tiere, deren Tod er des Morgens an ihrer noch immer gleichen Haltung erkannte oder daran, daß sich ein trüber, wolkiger Ring im Wasser um sie gebildet hatte …

Matthias nahm das Instrument zur Hand, mit dem er die Scheiben zu reinigen pflegte. Es war ein langer Stock, der vorn ein filzbezogenes Brettchen trug. Eine der rückwärtigen Treppen nach der andern erstieg er, tauchte den nackten Arm ins weiche Wasser und arbeitete behutsam. An gewissen Stellen nahm er besondere Rücksicht … Denn mit wahrem Entsetzen hatte er zu Anfang eines Tages bemerkt, wie eine prächtige, rot und grün gestreifte, dicke und fleischige Seerose ihrem Mißempfinden über seine Handgriffe dadurch Ausdruck gab, daß sie ganz einfach ihren Magen vollständig zur Mundöffnung herausstülpte …

Dann aber fing er an, nach rückwärts die Reihe der Bassins wieder abschreitend, sie mittels jener altmodischen Vorrichtung zu durchlüften. Zischend schoß der weiße Strahl durch das Glasrohr, trat unten mit Strudeln aus und führte den durstigen Kiemen und atmenden Hautflächen ihre Nahrung zu.

Und dann war zu Beginn des Tagwerks noch die Leitung zu prüfen, die vom Meer herauf das Wasser brachte, dazu ihr Sieb, das Unreinigkeiten abhielt, und die Saugpumpen.

Dazwischen nahm er auch irgendwo sein Frühstück ein. Er hatte gebeten, zum Tisch der Gelehrten nicht mehr hinzugezogen zu werden; die zwei braunen Südfranzösinnen sorgten dafür, und mit dem ausgeprägtesten Wohlwollen, daß es ihm gleichwohl an nichts gebrach. Aber mit zerstreuter Miene und hastig aß er und trank; denn Wichtigeres, das Füttern seiner Tiere, stand ihm bevor.

Den großen Fischen in den mittleren Bassins warf man das Ihre ja kurzer Hand hin: mageres Fleisch vom Rinde gab es für sie, Stücke Herz und – Matthias mochte es nicht denken – Fleisch von Ihresgleichen. Manchen der kleineren Wesen aber, und vollends natürlich den stillen Einsiedlern in den Glasbehältern der Regale, mußte man ihre zarteren Speisen oft lange Zeit mit der Holzpinzette oder mit dem Futterrohr hinhalten, ehe sie sich entschlossen, ihr Dasein wieder für einen Tag zu fristen. Oft mußte Matthias denken, der Professor habe doch wohl übertrieben, als er so allgemein von ihrer Lebenslust sprach …

Auch die gefräßigen unter ihnen kannte er natürlich; und er lachte vergnügt über dem rechteckigen Wasserspiegel, wenn er die Herzmuschel ihren Fuß ganz fest auf den Boden stemmen, ihn mit Blut aufsteifen und sich durch die ganze Breite des Beckens bis hin zum Stabe fortschnellen sah; wenn der elegante Heuschreckenkrebs, der sich Tag aus Tag ein ohne Unterlaß putzt und schniegelt, plötzlich überhastig seine Toilette unterbrach; wenn glänzende Fischchen blitzend herzuschossen: die silberleuchtende Lichia, der prunkhaft purpurne Knurrhahn, der schwerfällig hastende Drachenkopf, der so schlecht schwimmen kann, weil er keine Schwimmblase hat, und die schönen, farbigen Meerjunker, von allen die hungrigsten …

Und Matthias hielt ihnen mit dem Rohr oder mit dem Stabe das Ihre hin und neckte sie ein wenig und sprach mit ihnen und lobte sie … und keines von allen seinen Geschöpfen kannte ihn, und bei keinem von allen war es möglich, daß es ihn jemals kennen würde.

Nein, niemals würde eines von ihnen wissen, wer ihnen half, wer sie nährte, wer ihnen Reinlichkeit und Luft und das angenehmste Licht verschaffte, nie würde vielleicht auch nur die Hand von ihnen gesehen werden, die ihnen das alles tat. Keine Brücke gab es von ihnen zum Menschen. Sie zu betreuen, ihnen die Tage des Lebens zu widmen, dies war ein Dienst ohne Hoffnung, ein Dienst darum auch ohne Enttäuschung. Zu diesen ewig fremden Formen, Überbleibseln uralter oder Vorboten ganz neuer Lebenszeiten, zu ihnen gab es eine vollkommene Liebe.

Und Matthias war zufrieden in diesem unbedingten, in diesem wunschlosesten Dienst. Ungesehen, unerkannt, verschmäht diente und liebte er hier; solche Demut war seine Art von Glück auf Erden.

Es war im sechsten Monat nach jener seltsamen Ankunft, daß Professor Kostomarow an seine in Rußland lebende Schwester gelegentlich das Folgende schrieb:

»Sonst ist es das alte, ewige Kommen und Gehen. Einen ständigen Hausgenossen haben wir allerdings bekommen, einen neuen Diener für den Schausaal. Er ist noch sehr jung, kaum etwas über zwanzig, aber an ihm wird sich gewiß die kluge Meinung unserer russischen Bauern bestätigen, daß jedes Menschenherz nur bis zu einem gewissen Jahre älter werde und dann beharre. Er ist der schönste junge Mann, den man sich denken kann, dabei eigentümlich stumm und von wunderbarer Sanftmut. Seine Augen und seine Stimme sind so klar und rein wie bei einem Menschen, der niemals etwas Böses getan hat. Er kennt jetzt schon jede Muschel und jedes kleinste Fischchen, ich glaube, er ruft sie heimlich bei Vornamen. Du müßtest ihn sehen. Übrigens lebt er unter uns in einer fast völligen Isolierung, beinahe wie ein Heiliger.«

 


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