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38

Schlecht gebettet lag Matthias, auf hartem Holze hingestreckt, den Kopf zutiefst und halb ohne Stütze; die linke Hand ruhte ihm quer über der Brust, weich geöffnet. So lag er da in dem schönen Anzug. Die Lider über seinen jungen Augen zuckten nicht in der Helle, der Morgenwind fuhr ihm durch das Haar. Tief schlief er, minutenlang störte es ihn nicht, daß man ihn unverwandt betrachtete …

Jäh, doch ohne Erschrecken, richtete er sich auf und blickte durch die Gläser einer goldgerandeten Brille in zwei dunkle, ruhige Augen. Vor Matthias stand ein bärtiger, schwarz gekleideter Herr, der nun mit einer weiten Gebärde seinen altmodisch geschweiften, runden Hut abnahm und sich verbeugte. – Es war strahlend heller Tag.

»Ich hoffe, Sie haben sich nicht erkältet,« sagte der Fremde. »Sie sind so leicht bekleidet. Haben Sie denn lange gelegen?«

»Nicht sehr lange, das heißt …« antwortete Matthias in stotterndem Französisch. Verwirrt griff er, mit steifen Fingern, nach seiner zerknickten Hemdbrust und nach der Kravatte, die gelöst war … Eine Strähne seines weichen Haares lag ihm quer über der Stirn.

Eine kleine Pause trat ein. »Kostomarow ist mein Name,« sagte der Herr dann unvermittelt auf deutsch, aber mit nicht gewöhnlichen, fremdartigen Lauten. Auch Matthias nannte seinen Namen, doch nur den Vornamen mit deutlicher Stimme: im gleichen Augenblick überflutete ihn die Seltsamkeit seiner Lage, und er murmelte …

Herr Kostomarow sagte: »Verzeihen Sie nur, wenn ich so ohne Weiteres um Sie besorgt bin.« Und mit einem Lächeln und einer vagen Geste über das Gebäude hin fügte er hinzu: »Ich bin hier ein wenig der Hausherr. Aber du lieber Gott, Sie zittern ja …«

Matthias zitterte wirklich ein bißchen in der weißen Morgensonne, doch es war nur sein Körper, der sich nicht völlig behaglich fühlte … Der Anblick des bärtigen Mannes hatte sein Herz milde und freundlich in den Tag zurückgeführt.

»Jawohl, Sie frieren,« wiederholte Herr Kostomarow. »Aber warten Sie, warten Sie nur ein Augenblickchen …« Und langen Schrittes, mit wehenden Rockschößen, ging er davon, wobei er einmal beruhigend zurückwinkte.

Matthias schloß ein wenig die Augen, doch schon stand der Fremde wieder vor seiner Bank.

»Kommen Sie, lieber Herr,« sagte er, »ziehen Sie einstweilen dies hier an, es ist nur so ein Ledermantel, wie wir ihn manchmal bei der Arbeit tragen … Und nachher werden Sie wohl ein Gläschen Tee mit uns trinken.«

»O danke, ja.«

»Aber jetzt kommen Sie einmal in die Sonne. Hier hinter dem Hause ist es zu kühl.«

Und wie traumwandelnd, eingehüllt in den schwerfaltigen Mantel, der ihm bis zu den Knöcheln reichte, folgte Matthias dem fremden Herrn auf dem Kiesweg, der um das weiße Gebäude herumführte. Plötzlich lag, gleißend beschienen, flirrend vom Morgengolde, das Meer unter ihnen.

»Können Sie es ertragen?« fragte Herr Kostomarow, und sie ließen sich von Neuem nieder. Wie Matthias schüchtern aufblickte, bemerkte er, daß die helle Brille mit einer graugläsernen vertauscht worden war, hinter welcher die Augen in einem geheimnisvoll matten Schimmer lagen. So erschien ihm der Blick des Andern noch sanfter und gütevoller als zuvor … Mit einem Male dehnte sich alles gepreßte Leid in seiner Knabenbrust, und mit Mühe, eben noch, widerstand er der Versuchung, sich vor dem fremden Herrn mit Tränen schwach zu zeigen.

Der aber schien mancherlei zu begreifen. Er legte einen Augenblick leicht den Arm um Matthias, blickte ihn freundlich an und sagte: »Wollen Sie mir nicht ein wenig erzählen? Sie empfinden ja Kummer. Vielleicht haben Sie im Spiel verloren?«

Versunken schüttelte Matthias den Kopf. War sie nicht wunderbar, seine Begegnung … war dieser Mensch nicht wunderbar …

»Finden Sie mich nicht zudringlich, Herr Matthias, bitte nein. Aber ich treffe Sie hier so, ja wie soll ich es ausdrücken, so seltsam isoliert, nicht einmal einen Hut haben Sie auf dem Kopfe. Ich muß notwendig denken, mein junger Freund, daß Sie unglücklich sind, und wie uns Russen einmal der liebe Gott geschaffen hat …«

»Sind Sie ein Russe,« fragte Matthias schnell, mit Bestürzung in der Stimme.

»Wundert Sie das? Ja, ein Russe, Kostomarow ist mein Name, sagte ich es nicht … Professor Kostomarow. Das Gebäude, vor dem wir beide sitzen, ist die Station für Meeresforschung, von der russischen Regierung subventioniert, wußten Sie es nicht?«

»Nein,« antwortete Matthias in ganz abwesendem Ton. Er wendete sich um und blickte auf ein Stückchen weißgekalkter Wand, so als könnte ihn das orientieren. Aber gleichzeitig fühlte er sich bei der Hand ergriffen …

»Wollen Sie mir nicht sagen, wo es Ihnen fehlt, mein junger Freund? Das Spiel war es also nicht. Sie wissen doch: man rät an dieser Küste immer zuerst auf das Spiel, das darf Sie nicht wundern. Es ist keine Schande dabei …«

»Ich habe nicht gespielt,« sagte Matthias leise, »ich kann gar nicht spielen. Aber Kummer habe ich freilich. Glauben Sie, Herr Professor, ich weiß wohl, wie freundlich es von Ihnen ist, mich so zu fragen …« Er schwieg und ließ seine Hand in der des Russen. Etwas überaus Jugendliches, Kindliches beinahe, war in diesem Überlassen.

»Wie alt sind Sie denn, Herr Matthias?«

»Zwanzig Jahre.«

»Zwanzig Jahre … Aber mit zwanzig Jahren hat man Eltern oder Lehrer … Wo sind denn Ihre Eltern; verzeihen Sie, wenn ich das frage …«

»Ich bin allein,« sagte Matthias still.

»Oh …«

Doch nach einer Pause fuhr Herr Kostomarow fort: »Sie sind zwanzig Jahre, Herr Matthias. Ihr Kummer wird vorbeigehen, glauben Sie es. Und wenn es der schlimmste Kummer auf Erden wäre, er wird vorbeigehen.«

Hier aber schüttelte Matthias den Kopf. »Nein … ach nein,« entgegnete er stockend, »das glaube ich doch nicht, Herr Professor, daß auch mein Leid vorübergehen könnte. Auch mit zwanzig Jahren schon kann man ja deutlich wissen, ob man zu etwas nütze ist auf der Welt, ob man zu etwas taugt in der Welt, oder ob man ein elendes Geschöpf ist, das nicht verdient, zu leben. Ich aber tauge zu nichts, zu gar nichts. Nichts kann ich erreichen, nichts kann ich vollführen …«

Matthias' Stimme wurde leiser und leiser vor Weh, und schließlich, mit einem trockenen Schluchzen, versagte sie. Es war ein hoffnungsloser Ton, mit dem Matthias aufhörte, zu sprechen; fast erinnerte er an das Knirschen eines strandenden Bootes im Sand.

»Was denn, was denn,« rief Kostomarow bewegt, und er schien sich zu einer Art von künstlicher Heiterkeit zu zwingen. »Sind Sie denn etwa in einem Examen durchgefallen? Hören Sie, das wäre aber ein schlechter Grund, um hier im Frack unter freiem Himmel zu schlafen. Nun, ich sehe wohl, das ist es nicht …«

»Nein, das ist es nicht. Ich bin nicht im Examen durchgefallen. Aber sterben sollte ich … ich sollte sterben …« Und Matthias begann nun doch zu schluchzen und preßte die Hände des Professors, wie ein Kindchen, dem der Arzt wehe tut, die Hand seiner Mutter. »Ja, ich müßte sterben, die Welt kann gerade so gut ohne mich auskommen …«

Bei diesen Worten aber fing der Professor Kostomarow an zu lachen, mit einem tiefen, vollen, gutmütigen Lachen. Er drehte sich ganz zu Matthias herum und begann, ihm mit seiner freien Hand kleine liebkosende Schläge auf den Arm zu versehen. Immer wieder rief er beim Lachen mit rundem Munde: »Och, och, och, och.«

»Wahrhaftig,« und er zeigte sich nun förmlich ausgelassen, »wahrhaftig, kann die Welt nicht ohne Sie auskommen, kann sie das nicht, wirklich, mein junger Freund, wäre das nicht möglich? Ja, sollte man es glauben? Och, och, och … Aber wissen Sie denn« – und Herr Kostomarow wurde wieder ein wenig ernster – »wissen Sie denn, mein Herr, mein junges Söhnchen, daß Sie da in aller Ihrer Reue und Zerknirschung ganz prächtig unbescheiden sind! Sie tun ja gerade,« und der Professor stellte nun auch seine kleinen Schläge auf Matthias' Arm ein, »als wäre Ihnen in der Welt ein besonders schöner Ehrenplatz reserviert, und wenn Sie sich einmal auf dem nicht so ganz richtig aufführen, dann müßte gleich alles zu Grunde gehen. Meinen Sie das, Matthias, meinen Sie das wirklich …«

Und mit einer beinahe feierlichen Bewegung nahm der Professor plötzlich seine Brille ab und sagte mit lauter Stimme: »Und dabei sind Sie doch jung, Freund Matthias, und Sie atmen diese prachtvolle Meeresluft ein, und Sie erblicken den Sonnenglanz. Sogar ohne graue Gläser können Sie hineinsehen …«

»Ja,« antwortete Matthias nach einem Schweigen, »das ist schön. Aber es ist doch nicht genug …«

Der Professor zögerte. »Nein, vielleicht nicht,« antwortete er behutsam. »Sie mögen recht haben. Sie haben recht.«

Der Ernst, mit dem er sprach, hatte nichts von der überheblichen Übertreibung, mit der bisweilen ein Älterer auf einen Jüngeren einzugehen meint.

»Aber ich werde Ihnen darauf noch antworten, Matthias. Wie ist es, wollen Sie sich drinnen im Haus einmal unsere Tiere betrachten? Wollen wir es zusammen tun … Vielleicht kann ich Ihnen dort am besten antworten. Gehen wir zusammen hinein, Matthias … Aber, lieber Gott, was bin ich denn für ein Hausherr! Ich habe Ihnen doch ein Frühstück versprochen …«

»Ich bin nicht hungrig, wirklich,« sagte Matthias.

 


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