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Einsam war er freilich. Er lebte mit seinen Meertieren wie auf einem Felsen im Meer.
Das Haus war ja dauernd erfüllt von wechselnden Gästen wechselnder Nationen. Aber alle diese gelehrten jungen Leute blieben Erscheinungen für Matthias, und er blieb ein sanftes Bild für sie. Gegen jeden von ihnen war er voll verträglicher Höflichkeit, – aber kamen sie nicht hierher, um seine Tiere zu töten und zu zergliedern?
Ungern hatte er sich von allem Anfang an darein gefügt, auch die Arbeitsräume des ersten Stockwerks in Ordnung zu halten. Dort saßen sie ja an ihren langen, rohen Tischen, Flaschen vor sich und Messer und Zangen und vergrößernde Gläser und Röhren, und zerschnitten Geschöpfe, die für das Leben bestimmt waren. Was tot schon vom Fange kam – mochten sie es hinnehmen. Aber was hier im Haus in bescheidener Existenz sich noch regte, das schien Matthias fast sein Eigentum zu sein; gerne hätte er es geschützt.
Immer geschah es mit traurigem Blick und langsamen Bewegungen, daß er sich an dem großen Aufbau des mittleren Arbeitsraumes zu schaffen machte, wo die zur Untersuchung bestimmten Tiere ihre Galgenfrist verbrachten. Zehn stufenförmig übereinanderstehende Becken stiegen dort vom Boden bis zu ansehnlicher Höhe; schleiernd fiel das Wasser von Rande zu Rand. Eines Tages beobachtete ihn der Professor, wie er dort seine Arbeit tat, und am gleichen Abend noch erließ er ihm ohne viel Worte jeden Dienst in diesen oberen Räumen.
Wozu aber ward, nach Matthias' Glauben, die Station denn eigentlich von der Regierung des Zaren unterhalten, wenn nicht zu einiger Förderung der zoologischen Wissenschaft … Schien ihm die Belehrung und Unterhaltung der fremden Besucher das Wichtigere zu sein? Ach, ihm war nicht das Eine und nicht das Andere wichtig; hierüber dachte er wenig nach. Er war eingesetzt, um zu pflegen, zu dienen und zu lieben.
Nein, auch die spärlichen Fremden, die von Beaulieu, von Nizza oder Monte Carlo herüberkamen, – vielleicht weil sie im Spiel ihre Barschaft verloren hatten und just auf neues Geld warteten, oder weil die monotone Eleganz der Küste sie endlich einmal zu langweilen begann, – Matthias hätte sie gerne entbehrt. Freundlich, aber doch ganz verschlossen, ging er in seinem blau und weißen Anzug neben den Beschauern her und gab mit leiser Stimme seine Erklärungen … Frauen betrachteten verstohlen und forschend sein weißes Gesicht unter dem dunklen Haar, doch eine sanfte Kühle ging von seiner Person aus, wie die Kühle der See am Sommerabend …
Selbst mit Herrn Kostomarow kam es selten mehr zu Gesprächen, obgleich an Matthias Verehrung, Dankbarkeit und Neigung sich immer und gleichmäßig verrieten. Aber es war, als hätten sie einander in den ersten Stunden ihres Sichkennens bereits alles Wichtige gesagt. Betrat der Professor den Saal, so legte er wohl, in stummer Betrachtung eines der Becken, seinem jungen Diener den Arm um die Schulter oder nahm ihn auch bei der Hand.
Einmal bei einer dieser Gelegenheiten war es Matthias, als müßte er diese kühle, feste und vertrauenswerte Männerhand doch schon in seinem vergangenen Leben gespürt haben. Und dann wußte er, daß er an Rümelins Gruß sich erinnerte. Rümelin …
Wie fern war das alles, wie weit lag Deutschland zurück: die Hauptstadt und der Schulort und die ländliche Heimat. Kein beschreitbarer Weg führte mehr dorthin … Als er, zu Anfang gleich, mit einem seiner mühsamen und kindlichen Briefe den überflüssigen Geldbetrag an Lena zurücksandte, da war ihm, Gott weiß warum, keinerlei Bestätigung geworden. Und auch von den Seinen, von Vater und Schwester, kam niemals Nachricht trotz mancher Bemühung. Er wunderte sich kaum. War es nicht sein Schicksal, vergessen zu werden … Wünschte er es im Grunde auch anders? Deutschland war versunken. Sogar bürgerlich war er kein Deutscher mehr.
Denn der Professor, der ihm Stellung und Unterhalt zu sichern wünschte, hatte ihn leicht beredet, die Eigenschaft als russischer Untertan zu erwerben; und er hatte ihm, kundig, den Weg dazu gekürzt.
Matthias sagte: »Ich bin von meiner Mutter her ohnehin ein halber Russe, ein halber Pole wenigstens …«
Nach einer Pause fügte er hinzu: »Aber es hat ja weiter keine Bedeutung bei mir.«
Das ist wahr, dachte der Professor, und vielleicht mehr als es dir deutlich ist! Stehst du denn nicht beinahe außerhalb der Welt …
Es blieb Matthias viel freie Zeit zwischen seinen gläsernen Bezirken. Er verließ sie nicht oft. Die belebteren Orte der Umgebung aufzusuchen, vermied er mit Ängstlichkeit, nach Nizza im Besondern setzte er nicht den Fuß. Ein paar Mal erstieg er einen der Pfade, die zur großen Höhenstraße führen; häufiger fuhr er in die Bucht hinaus, legte die Ruder ins Boot und ließ sich in Gedanken zu den glücklicheren Brüdern seiner Pfleglinge hinab, die tief unter ihm, in abyssischen Gründen, lautlos ihr Leben führten, mit Springen und Schwimmen und Wanken und Schweben …
Aus gelehrten Darstellungen und farbigen Atlanten unterrichtete er sich über die seltsamen Verwandten seiner Tiere in südlicheren Meeren oder in tiefsten Tiefen: bald hätte er mehr sein können als ein Handlanger. Aber als ihm Kostomarow einmal lächelnd von einer möglichen Laufbahn sprach, lehnte er mit sanftem Ernste ab.
Auch mit gewissen erzählenden Werken und Versbüchern aus der privaten Bibliothek des Professors beschäftigte er sich hie und da zu seiner Unterhaltung. Selbst das russische Alphabet hatte er sich zu eigen gemacht, und eines Tages entzifferte er auf dem Rücken eines umfänglichen Bandes den Titel der Krapotkinschen Memoiren. Er nahm das Buch heraus, blätterte ein wenig in dem unverständlichen Texte und hielt es dann, geschlossen, noch eine Weile in der Hand.
Später einmal traf er in einem Werke des französischen Schriftstellers Gautier auf einige Sätze, über die er lange nachdachte …
Er hatte an jenem Abend die Schauhalle bereits geschlossen, aber es war noch hell; er saß auf der Bank an der Seeseite des Hauses, wo er mit dem Professor, vor mehr als einem Jahre nun, jenes erste Gespräch geführt hatte. Es war ein herrlicher Frühlingsabend, Häuser und Bäume der nahen Halbinseln traten mit warmen, starken Farben hervor, das Meer glühte kupfern von der tiefstehenden Sonne. Er las:
Que serait-ce, si nous descendions dans ces limbes, où vagissent, avec les ombres des petits enfants, les vocations mort-nées, les tentations avortées, les larves d'idées qui n'ont trouvé ni ailes ni formes …
Bei diesen Worten verweilte Matthias. Ist hier nicht die Rede von mir, fragte er sich, und von meinem Schicksal? Welche große Tat wollte ich doch ausführen … Was für große Worte habe ich doch immer gebraucht … Und nun – was tue ich, was ist aus mir geworden?
Gesenkten Hauptes saß er da, sein Buch war ihm zugefallen. Er hatte auf Französisch weitergedacht: obwohl er die Sprache durchaus nicht sicher beherrschte, geschah ihm dergleichen seht häufig …
» Je suis le plus humble des hommes,« sprach er laut vor sich hin.
Aber bei diesen Worten, von denen er nicht wußte, woher sie ihm kamen, fühlte er eine jähe, süße Freude in seiner Brust; und seine Augen trübten sich, so daß er nur undeutlich noch das rötlich strahlende Meer erblickte – die tiefe Heimat seiner unnahbaren und geliebten Geschöpfe.