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34

Im Vorübergehen hatte Matthias einen Blick in den Speisesaal des Hotels getan, und ohne daß er es wußte, war er von dem prächtigen weiten Raum, der verlassen dalag, eingeschüchtert worden. Er ging zum Diner nicht hinunter, sondern ließ sich in seinem Zimmer die lange Speisenfolge auftragen, die er ohne Appetit, eigentlich aus Gehorsam gegen den Kellner, absolvierte. Unsicher den Bräuchen gegenüber hatte er sich eine Flasche Wein bestellt, und auch diesem Wein sprach er zu in seiner Verlegenheit. Zufällig war er an einen starken und sprühenden Mont-Rachet geraten und fühlte sich nach den zwei oder drei Gläsern befreit und wohl aufgelegt, den Frack anzutun und sich unter Menschen zu wagen.

Die glänzende Halle war belebt von plaudernden Gruppen im Abendanzug. Man saß in den schweren Fauteuils oder stand zwischen den Palmen umher. Schwirrendes Gespräch und Lachen war hörbar. Nach der Promenade hinaus verschwanden einzelne Paare, mit einem Scherzwort oder einem Gruß an behaglich Zurückbleibende. Spätlinge kamen aus dem Speiseraum. Von einer kleinen Galerie im Hintergrunde ließ sich, auch hier, ein Orchester hören, aber es war nicht immer möglich, in dem eleganten Lärm seine Darbietungen zu unterscheiden. Matthias erfaßte mit dem ersten Blick unter einer Pflanzengruppe die russischen Herrschaften. Die Frau saß ihm voll zugekehrt. Der Schein eines rot beschirmten Tischlämpchens beleuchtete und tönte ihr Gesicht. Sie war herrlich.

Matthias fühlte sich wohl. Seine Mission stand irgendwo im Dunkeln hinter ihm. Er unternahm etwas, was er am Nachmittag gewiß nicht gewagt hätte. »Hören Sie,« sagte er zu dem bärtigen Portier, der neben ihm beim Treppenaufgang sich hielt, und er bemerkte, daß er auch mit einer neuen Leichtigkeit Französisch sprach, »wer ist diese Dame, dort in Gesellschaft von General Kiprjanoff?«

»Die Fürstin Lanskoj, Herr,« antwortete der Mann ohne erst hinzusehen, »aus Petersburg. Der Herr mit dem hellen Bart ist der Fürst.«

»Ah,« sagte Matthias, »Lanskoj.« Und weil er das Gespräch nicht unhöflich abreißen mochte, fügte er hinzu: »Und wer ist dieser schlanke, rasierte Herr, der immer mit ihnen ist, – auch ein Russe, nicht?«

Der Portier änderte vorsichtig die Richtung seines Blickes, dann sagte er mit Erstaunen im Ton:

»Aber das ist Herr Kiprjanoff. Sie nannten ihn doch eben selbst …«

»Ah …« stammelte Matthias, und seine Hand tastete nach einer Stütze, »ich glaubte, jener schwarzbärtige Herr dort sei der General, der neben ihm … Wer ist denn nun das …?«

»Ein gewisser Herr Besborodko,« erwiderte der Portier und entfernte sich ohne weitere Förmlichkeit. Auch Matthias verließ seinen Platz, trat unter das Portal und atmete die weiche, noch immer warme Nachtluft. Es fuhren weniger Wagen, er hörte das Meer. Matthias zog eine Cigarette hervor, weil er vorbeigehende Herren rauchen sah, doch er vergaß anzuzünden. Langsam kam er zu sich …

Hiermit also, mit dieser Enthüllung, hieß es sich nun abfinden. Alles war verändert. Zum ersten Mal stand in Wahrheit, stand in ihrem vollen Ernst seine Aufgabe vor ihm. Noch hatte er nicht an sie geglaubt, noch hatte er ihr nicht ins Gesicht gesehen …

Nein, nicht darum handelte es sich, einer widerlich grobschlächtigen Bestie, deren Art nach der Austilgung schrie, den Stahl in ihren gemeinen Rücken zu stoßen; so billig wurde nichts Großes gewirkt, so billig rechtfertigte sich auch ein Leben nicht. Ganz Anderes stand bevor, Schweres, ja Ungeheures. Das Nächste aber mußte sein, den Feind zu sichten, zu erkennen, – noch nicht das Eisen, aber das Herz zu ihm aufzuheben. Es wurde Ernst.

Und nach einigen Schritten, mit denen er sich indes nicht vom Portale entfernte, kehrte Matthias in das Innere des schicksalträchtigen Hauses zurück.

Die Lorgnetten hoben sich gegen sein Gesicht, wie er gegen die russische Gruppe hinschritt. Man fand ihn schön und sagte es. Ihm aber war, als werde er schon von der Türe an nicht durch eine Pflicht nur, nein von körperlicher Gewalt geradeaus geleitet. Er schritt mit schüchtern unbewegten Schultern und Armen, blassen Gesichts.

Die Fürstin Lanskoj hob kein Glas, ihre perlmutternen Augen saugten Matthias her durch die erleuchtete Halle …

Wie er dann dasaß, kam es ihm vor, als habe er gleiche Augenblicke schon einmal durchlebt. Doch auf so verschlungenen und dunklen Wegen irrte sein Geist, daß er sich nicht zu sagen vermochte, am gleichen Nachmittag sei das gewesen. Welche Spanne war denn seit seiner Ankunft vergangen? Keinen Zeitablauf gab es mehr, nur noch einen Wirbel, der ihn rasend stets wieder zur gleichen Stelle trieb, der aber mit seiner Gewalt, – und dies war zu ersehnen – endlich den Treibenden an seinem festen Mittelpunkt zerschmettern mußte.

Das Gespräch drüben war nun am Abend lebhafter und allgemeiner, ja es wurde auf Augenblicke lärmend.

Heftig bewegte sich Besborodko auf seinem Stuhle hin und her, ließ seine Ringe blitzen und lachte dröhnend. Matthias stellte flüchtig fest, was festzustellen nun leicht war: daß er sich in diesem Gesicht töricht geirrt habe. Es war eher kindisch und ungeformt als bösartig. Und die Episode mit dem Pagen, – sie war Rußland, häßlichstes Rußland freilich, aber nicht wert, rächenden Zorn aufzuhalten und zu zersplittern. Mochte er drüben in Sicherheit den Witzbold spielen, der Tölpel.

Denn Besborodko erzählte ganz offenbar viele und kräftige Späße, über die der alte Fürst – Matthias nannte ihn alt, obwohl der kränkliche Edelmann vielleicht noch nicht hoch in den Vierzigern stand – mit schwachem, seufzendem Tone lachte. Seine Favoris, die eigentlich nicht grau waren, nur farblos blond, zitterten unaufhörlich.

Aber Kiprjanoff sekundierte den Späßen mit hoher, höflicher, ein wenig näselnder Stimme; in raschem Französisch führte er weiter, was der Schwarzbärtige vorbrachte, oder kommentierte es oder tat es ab. Matthias vermochte nicht zu folgen. Aber so angespannt beobachteten seine Sinne den Feind, daß die Klangbiegungen ihm die Natur der Repliken verrieten.

Nun sah er es freilich: dies war der Feind. Unglaublich stumpf oder im Geheimen feige hatte er sein müssen, um den Andern, diesen armseligen Schlächterburschen, für das Ziel zu nehmen. Nur ein Mal hätte er ja ein entschlossen waches Auge auf den Vornehmen und Gefährlichen zu wenden brauchen, auf den es nun galt, zu blicken – und mehr als zu blicken.

Der General wandte im Gespräch, ohne die Haltung seiner Schultern zu verändern, den Kopf nach rechts und nach links, mit gefälliger Eile, ohne Hast. So sah ihn Matthias endlich ganz und vermochte ihn zu studieren.

Angstvolles, entmutigendes Studium … Matthias fühlte nach der Waffe, die er nicht gewagt hatte, auf seinem Zimmer zu lassen. Ja, sie war wirklich vorhanden, die Waffe, und scharf geschliffen, aber würde er sie jemals brauchen können, war der letzte Entschluß, war die Geste dazu nicht unmöglich, ein Hirngespinst?

Die Erscheinung dieses schlanken Mannes im Smokinganzug entrückte sich Matthias. Der General wurde mehr für ihn als ein Mensch, der da im Vestibül ein paar Schritte entfernt saß. Er war ja auch mehr, er war ja alles, wovor sich Matthias seit so langer Zeit gebeugt, was sein Blut überlegungslos verehrt hatte. Denn sonst wäre es ja in Wahrheit möglich gewesen, nun aufzustehen, hinzutreten und dem General das Eisen seitlich unter die Schulter zu stoßen, dorthin, wo sich der matte Stoff des Anzugs so straff und aufreizend spannte …

Aber wären auch alle Hemmnisse überwunden gewesen, das Eisen wäre machtlos abgeglitten. Dieser Mann saß dort wie in einem Panzer. Nein, man stand nicht auf als ein Knecht und fällte, so wie man ein andres Geschäft tut, einen der Auserwählten, einen Herrn.

Es genügte auch nicht, um Entschluß und Kraft zu gewinnen, daß sich Matthias vor Augen hielt, wer ihm gegenüber saß. Ein Verworfener freilich. Kein Zweifel jetzt, daß Notowitschs entsetzliche Geschichte aus dem Kadettenkorps ihre Wahrheit hatte. Sie lag in der Natur dieses Menschen, und es lag auch in seiner Natur, die Juden seines Gouvernements ausräubern und hinmorden zu lassen, – nicht aus Verwaltungspolitik, Lena wußte es ja, sondern aus wahnsinniger Verachtung der Menschen, aus Herrscherwollust …

Kiprjanoff kehrte das schmale Haupt hierhin und dorthin und Matthias sah, wie durch seine dünnen, an der Wurzel ganz angewachsenen Ohren das Licht schimmerte. Er sah seine Nase, eine unmenschlich schmale Nase, die an den Seiten so zusammengedrückt war, daß es unverständlich erschien, wie er durch sie atmen konnte. Aber das Seltsamste, äußerst seltsam waren seine Augen …

Kiprjanoffs Augen, von keinen Brauen überdacht, waren hellblau, eigentlich wasserblau. Aber wenn beim Hin- und Herwenden das Licht sie seitlich traf, so glänzten sie mit einem rötlichen Scheine auf und waren auf eine Weise transparent, wie es Matthias glaubte nur an Tieren gesehen zu haben. Er erinnerte sich an einen Abend in der Kleinstadt, da er mit Wächter ein wenig spazieren gegangen war: der lief zur Seite voraus, und wenn er unter einer der Straßenlaternen vorbeikam, so schimmerten seine Augen in solcher Weise – Wächters gute Augen. Bei einem Menschen aber bedeutete das nichts Gutes, dies stand fest.

Matthias vermied es beharrlich, die Fürstin anzusehen, von der er spürte, daß sie ihn beobachte, von der er mit jeder Fiber wußte, daß sie dort neben dem Feinde saß. Langsam, gewaltig, zog sie ihn in ihren Kreis.

Dort saß sie neben dem unverwundbaren Feind, als Seinesgleichen. Mehr vielleicht als nur ihm gleich.

Das Bild von der Waldlichtung stieg in Matthias auf: die Jägerin neben dem Jäger und stärker als er. Ein Herr stand dort an der Lichtung neben ihr, deren achtlose Hände das zuckende Tier hielten, er stand mit hängenden Armen, ängstlich, voll Scham, nicht viel anders denn ein gescholtener Schulknabe … Er haut die Leute jetzt, sagte Susa. Aber des Nachts lag er weinend vor dem Schlafzimmer seiner Frau. Aber er empörte sich nicht, wenn ein schlecht geschnallter Steigbügel ihm scharf ins Gesicht flog … Matthias sah die Gräfin, wie sie bei jenem Besuch im Sterbehause plötzlich genug hatte und davonging, ohne zu fragen, ohne sich umzublicken; der Herr aber folgte.

Holde, hohe Macht. Gegen einen hochgeborenen Bösen die bewehrte Hand zu erheben, das war nicht Sache eines Dienenden. Das war die Sache eines Weibes von gleicher Blutsart, dem Jener unterlag – als einem Weibe. Süße, äußerste Macht! In ihrer Hand freilich würde das Eisen nicht abgleiten …

Lachen, Brausen und Musik war um Matthias. Sein Blut gebar Bilder und Ahnungen, denen sein knabenhaftes Denken nicht Stand hielt, die ihn mit ihrer dunklen und unheimlichen Fülle überwältigten. Die Vernunft wich ihm, wie ein Reifen aus allzuweichem Metall …

Er richtete sich empor, von einer luftigen, unwiderstehlichen Gewalt fühlte er sich emporgezogen. Er fand den Blick der Fürstin Lanskoj auf sich gerichtet, saugend und fest, mit äußerster Entschiedenheit. Nun erst mußte er sie sehen und sah sie.

Die schöne Frau hatte sich schwarz gekleidet, in ein Gewand aus glatter Seide, aus dem ihr Fleisch leuchtete. Der Hals war nackt bis herab zum Ansatz der Brüste, die Arme waren nackt, und wie sie die Hand zum Munde führte, um aus ihrer Cigarette einen Zug zu tun, erschimmerte goldener Flaum unter ihrer Achsel. Frei und hoch thronte ihr helles Haupt. Ihre Lippen erschienen herausfordernd rot, ihre Brauen stärker nachgezogen als am Tage, und über seidig vorgekämmten, rötlichen Haaren trug ihre Stirn ein Diadem: ein stählern schwarzstrahlendes Band geschliffener Steine, in dessen Mitte eine große dunkle Perle dämmerte. Perlen ähnlicher Gattung, von nur wenig hellerem Grau, schlossen ihren Ohrschmuck ab, der, schwer und kompliziert gearbeitet, bis tief über ihre Wangen reichte. So saß sie und blickte Matthias fordernd in die hingegebenen Augen …

Aber damit nicht irgend ein Zweifel mehr in ihm möglich bleibe, wies sie, ohne die Haltung zu verändern, mit den Augen erst auf ihren Gatten, dann auf den Gouverneur, mit wegwerfendem, ja offenkundig verächtlichem Ausdruck – einem Ausdruck, der besagte: diese sind mir nichts, du aber und ich, wir gehören zusammen. Gleich darauf wandte sie sich mit völlig gesammelter Miene an Kiprjanoff …

Matthias, da er sich losgelassen fühlte, sank wie entkräftet zusammen. Er begann ratlos in seinem kalt gewordenen Tranke zu rühren und beugte sich tiefer über das Tischchen. Plötzlich fühlte er einen heftigen Schmerz an der ungefähren Stelle seines Herzens. Der Dolch mußte die schlecht passende Hülle durchstoßen haben, und seine Spitze bohrte sich in das Seidenfutter des Rockes, in die Höhlung zwischen zwei Rippen.

Wie Matthias in die Höhe zuckte, wartete schon ihr Blick. Einen Moment lang hielt sie seine Augen fest, winkte dann mit einer kleinen Bewegung nach der Seite hin, dem Treppenaufgang zu, senkte die Lider mit Nachdruck und öffnete sie wieder, bedeutsam.

Sie gab ihm Zeichen, kein Zweifel war mehr denkbar. So verkehrte sich in dieser Minute sein Leben … Und schon sah Matthias sie mit farbig beringter Hand eine Geste nach der Schläfe tun, als erinnere sie sich an etwas Versäumtes … Die Herren kehrten sich ihr mit liebenswürdiger Frage zu. Sie antwortete, erhob sich und schritt langsam, sacht rauschend, durch die leerer gewordene Halle zum Aufzug. Mit tiefer Verbeugung ließ der betreßte Diener sie vorangehen, er folgte, schloß die Schiebetür, und im milchgläsernen Gehäuse, das aufschwebte, sah Matthias ihr dunkles Kleid undeutlich schimmern.

Mechanisch erhob er sich, gelangte auf einem kleinen Umweg zur Treppe und begann sie zu ersteigen. Sein Herz schlug dumpf und rasend; dennoch brachten seine Füße so leicht die Stufen hinter sich, als würde er, enthoben eigener Mühe, empor geleitet, empor gezogen.

Schon glitt ihm zur Seite der Aufzug wieder herab. Die Tressen des Angestellten blitzten ein wenig durch das matte Glas. Matthias erreichte das Zwischengeschoß, der niedrige Gang war leer; im ersten Stockwerk aber sah er sie warten.

Sie hielt sich zur Seite, – einige Schritte von der Treppe und dem Aufzug entfernt stand sie auf dem roten Teppich des Korridors, in der vorgetäuschten Stellung eines Menschen, der, sich besinnend, eben Halt macht. Ihre Vorsicht schien überflüssig, niemand zeigte sich …

Matthias, ganz nahe an der Wand sich haltend, ging auf die Fürstin zu. Sie kam ihm entgegen, kam an ihm vorüber und sagte mit ganz tonloser, ganz ausgelöschter Stimme: »Zwei Uhr heute Nacht, Zimmer vierzehn, Nummer vierzehn. Gehen Sie fort. –«

Aber hingenommen wußte er sich aus ihrer Atmosphäre nicht zu trennen, meinte vielleicht auch, so ohne ein Wort sich nicht trennen zu dürfen, verwirrt schickte er sich an, ihr zu folgen. Da strich sie ihm rasch, ganz flüchtig, mit ihrer duftenden Hand über Augen und Lippen, schritt rauschend aus, überquerte den freien Raum vor der Treppe und ging auf der andern Seite tiefer in den Korridor hinein.

 


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