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Er war kein Arbeiter, er kam aus gesicherten Umständen, und also war er nicht geschickt, sich in der Großstadt den bescheidensten Platz selber zu finden. Er litt zunächst nicht darunter. Benommen ging er und ins Leere träumend in den Straßen herum, ohne etwas Bestimmtes zu wollen, aß irgendwo eine Semmel, wenn es ihm einfiel, und schlief, auch hier in Berlin, irgendwo unter dem Sommerhimmel.
Ein einziges Mal in diesen Tagen betrat er im Norden eine Wirtschaft, ließ sich Milch geben und verlangte Schreibzeug, um seinem Vater Nachricht zu senden. Ihm war zu Mute, als seien sie durch eine ungeheuere Öde voneinander getrennt. Ja es erschien ihm im Grunde nicht sehr glaubhaft, daß noch ein Brief zu seinem Vater gelangen könnte … Er ahnte recht.
Jene Wunderlichkeit, die von der Schwester erwähnt worden war, hatte damals seinen Vater fast schon zerstört. Noch tat er seinen Dienst, aber er sprach kaum mehr und hatte begonnen zu trinken. Einige schoben dies auf alte Kopfwunden, die von einem Hufschlag herrührten, und die sich nun, wie man meinte, so spät erst geltend machten. Andere dachten mehr an den Tod seiner Frau. Auch der Wendung, die es mit Susa genommen hatte, wurde ihr Teil zugeschrieben.
Aber hierin jedenfalls irrte man. Denn als Susas Geliebter in den ärgsten Tagen davonging, als sie dann schließlich sein Kind gebar, war der Großvater so zärtlich, als er mit einem zu Recht geborenen nur hätte sein können, spielte halbe Tage an seinem Bettchen und ließ es gerne im Haus. Von Matthias sprach er niemals, es blieb ungewiß, ob er seinen Brief gelesen hatte, und wenn er ihn gelesen hatte, ob er ihm Bedeutung gab. Auch über das, was ihm von fremder Seite schriftlich gemeldet wurde, verlor er kein Wort. Susa las im Geheimen die Anklage des Lehrers und schwieg dann wie der Vater; sie hatte am eigenen Schicksal zu tragen.
Selbst eine so unfähige Herrschaft, wie der Graf sie darstellte, mußte zuletzt bemerken, wie es mit dem Verwalter stand, und wenig mehr als ein Jahr nach der Geburt des Kindes verließen sie zu dritt das Gut und verzogen in eine mittlere Stadt weiter nach Westen hinüber. Susa pflegte dort ihren Vater, sklavenhaft dankbar für seine Duldung, ganz ohne böse Launen, die doch oft zu verstehen gewesen wären, und sie begrub ihn mit Tränen. Damals war ihr Knabe acht Jahre alt und sie selbst eine fast schon verblühte Frau. Sie fand gleichwohl einen, der sie heiratete, einen Kellner, dem in der langweiligen Stadt ihr ein wenig fremdes Wesen gefiel. Doch als er sich mit einem kleinen Kaffeehause selbständig gemacht hatte, schadete die eingeschlossene Luft, worin sie jeden Nachmittag und halbe Nächte zubrachte, ihrer Lunge, und es blieben ihr wenige Jahre. –
Matthias überkam, als die schönen Tage von regnerischen und kühlen abgelöst wurden, die körperliche Not und etwas, was einem Bewußtsein seiner Lage wenigstens ähnlich sah. Ungewiß dennoch, was er begonnen hätte, wenn nicht ein Erlebnis, das ihm schlimme Erinnerungen heraufbeschwor, seinem träumenden Sinn zu Hilfe gekommen wäre.
Als er nämlich eines späten Nachmittags im tröpfelnden Regen die Invalidenstraße hinunterging, um einen ihm bekannt gewordenen Logierkeller im hohen Norden aufzusuchen, bemerkte er, daß ihm jemand folgte, und sich umwendend, sah er sich Aug in Auge mit einer umfangreichen älteren Weibsperson ohne Hut, die asthmatisch keuchte. Sie warf bedeutungsvoll den Kopf zurück, winkte und fragte ohne Umschweife, ob ihm daran gelegen sei, sich ein Stück Geld zu verdienen. Matthias nickte.
»Sie sollen nichts dafür arbeiten,« sagte sie leise, »im Gegenteil – es wird ein Pläsier sein für einen jungen strammen Kerl. Wir haben ein flottes Mädchen herbestellt. Zwei sehr feine Herren sind da, Ausländer, solche, die nachher noch extra etwas springen lassen …« Und nach einigem Fragen verstand Matthias, daß er dazu ausersehen sei, bei einer geheimen Schaustellung von besonderer Art mitzuwirken. Er machte finstere Augen und ließ die Alte in der Seitenstraße stehen, in die sie ihn gezogen hatte. Unterm tröpfelnden Regen stand sie da, die Hände auf den Hüften, erstaunt und wütend, und schimpfte leise hinter ihm drein.
Aber am andern Vormittag meldete sich Matthias auf einem Arbeitsamt der inneren Stadt.