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In der Kreisstadt zeigte es sich, daß Matthias' Vorstudium mangelhaft und seine Lernfähigkeit mäßig war. So öffnete sich ihm eine Zeit sehr strenger Arbeit. Das Logis, das man für ihn ausgewählt hatte, wurde nach dem Ablauf des ersten Jahres allzu kostspielig erfunden, und man gab Matthias einem Hilfslehrer in Pension, der für seine Mansardenstube geringere Forderungen stellte.
Dieser Hilfslehrer, ein kränklicher und meist mißlauniger junger Mann, war bereits verheiratet und zwar mit einer kleinen blonden Frau von ordinärer Hübschheit, der Tochter eines Weißwarenhändlers aus der Stadt. Sie hatte weiche, kurze, fette Händchen mit niemals sauberen Nägeln, und sie lag beim Essen mit dem Gesicht in ihrem Teller; Matthias brachte ihr wenig Neigung entgegen. Er war der einzige Pensionär des Ehepaars, und er benahm sich mit äußerster Bescheidenheit. Sogleich nach dem Abendessen pflegte er gute Nacht zu wünschen und auf seinem Zimmer beim Schein von Kerzen, deren Preis er sich zusammensparte, noch zu lesen. Ein Buch, das er kaum beendigt immer von Neuem begann, waren die Memoiren des russischen Revolutionärs Krapotkin; der Band war das Eigentum eines Kameraden, und Matthias bat von Monat zu Monat, ihn ferner behalten zu dürfen.
Eines Abends kam die Lehrersfrau ohne weitere Umstände zu ihm ins Zimmer. Sie gab sich wenig Mühe, einen Vorwand zu erfinden, erzählte, daß ihr Mann in eine deutschnationale Versammlung gegangen sei, und stellte sich blinzelnd vor Matthias hin. Er versuchte mit Stottern, beängstigt, ein Gespräch zu beginnen, aber sie kam vollends heran, sah ihm von unten her in sein schönes Gesicht und begann, sich wie eine Katze an ihm zu reiben. Doch diesmal war die Mischung von Mitleid und gedemütigter Lust, die er in solchen Fällen zu empfinden pflegte, schwächer als sein persönliches Widerstreben. Er packte die Frau bei den Schultern, schob sie ein Stück weit zurück und schüttelte den Kopf. Er sagte: »Ich bitte, gehen Sie hinunter, Frau Adam, oder ich weiß, was ich morgen früh tun muß.«
Aber kaum hatte sie nach einem rachsüchtigen Blick die Tür geschlossen, so faßte ihn eine sonderbare Art von Beschämung. Er empfand seine Weigerung und besonders seine verzweifelte Drohung als etwas sehr Gemeines. Ohne daß er wohl vermocht haben würde, dies in klaren Worten auszudrücken, – es erschien ihm grausam und verwerflich, eine Kreatur, die ihren blinden Trieben unterlag, derart zurückzustoßen. Ich darf es sie nicht entgelten lassen, daß sie mir nicht gefällt, dachte er in seinem Knabenherzen, und ohne sich viel zu besinnen, warf er sein Buch, das er noch immer hielt, auf den Tisch und ging im Finstern die Treppe hinunter.
Aus dem Schlafzimmer kam ein Lichtschein. Er klopfte und öffnete, ohne zu warten. Die Lehrersfrau saß, mit nackten Brüsten bereits, auf dem Bettrand. Er warf sich vor ihr hin, legte den Kopf auf ihre Kniee und flüsterte: »Oh verzeihen Sie, verzeihen Sie!«
Sie, ganz verwundert, nahm ihn auf und hielt es für angebracht, nun ein wenig »ideal zu tun«, wie sie es in ihrem Innern nannte. Sie saßen dann nebeneinander, und eben hatte die Frau begonnen, von ihrer Liebe zu erzählen, die sie bereits am ersten Tag nach seiner Ankunft für ihn empfunden habe, als sie zusammenfuhr, schrie und Matthias hastig unter das Ehebett stieß.
Der Lehrer kam herein, hustend und schlechter Laune. Er erzählte, daß er den Tabaksrauch und die unentschlossenen Reden nicht länger habe vertragen können. Die Frau, bösen Gewissens, suchte ihn mit einer zärtlichen Energie aufzuheitern, die er erstaunt und geschmeichelt aufzunehmen schien. Nicht lange, so schlief er.
Aber der große Junge lag in Staubwolken unbeweglich wach und zerriß sich sein Herz mit Vorwürfen. Er war nicht der Mensch, der die Fähigkeit besessen hätte, sich zu trösten und zu beruhigen, obwohl sein Gewissen gerade in diesem Falle hätte frei sein dürfen. Zerknirschung und grenzenlose Demut zogen in seine Seele ein … Auf ein Zeichen wagte er endlich mit ungeheuerer Vorsicht, sich der Tür zu nähern, und ohne daß der ermattete Lehrer ihn hörte, gelangte er hinaus und auf sein Zimmer.
Aber nun begann eine Zeit des Leidens für ihn. Matthias machte sich für die Frau zu einer Sache, die sie nach Wunsch gebrauchen konnte, und vor dem Manne erniedrigte er sich, aus Sehnsucht nach Buße, zu hündischer Unterwürfigkeit. Das Ergebnis war natürlich, daß er verachtet wurde; doch er selbst verachtete sich mehr.
Eines Mittags, wie sie beim Essen saßen – er nahm sich immer wenig und vom Schlechtesten – wurde geklingelt, und da es kein Mädchen gab, stand Matthias auf, um zu öffnen. Es war eine Depesche, an ihn selber adressiert. Sein Vater rief ihn nach Hause, die Mutter liege im Sterben … Matthias fuhr mit der Kleinbahn, sodann mit dem Wagen, aber er kam schon zu spät. Es war eine galoppierende Schwindsucht gewesen, und da die Mutter sich schwach, doch frei von Schmerzen fühlte, so hatte man erst am Tag zuvor den Arzt kommen lassen.
Als der Wagen vors Haus fuhr, wußte Matthias alles; man hatte ihm die Nachricht vom Feldrand aus zugerufen. Er fand seinen Vater neben der Leiche sitzen, trübselig und sehr gealtert, mit schmutzigen hohen Stiefeln, die er gewiß zwei Tage lang nicht abgezogen hatte. Susa, in einem hübschen schwarzen Kleid, sehr frisch gewaschen, hantierte lautlos im Hause herum. Wie Matthias sie umarmte, fühlte er, daß sie eine Frau geworden war, und er erschrak ein bißchen darüber. Er setzte sich neben seinen Vater und sah auf das Gesicht der Toten, das tief befriedet und vollkommen leer war. Er fühlte keinen Schmerz und eine gewisse Scham über diesen Umstand. Auch kam es ihm zum Bewußtsein, wie wenig er sich in dieser vergangenen Zeit in Gedanken mit seinem Elternhause abgegeben hatte … Freilich bot man ihm wenig Anlaß, man ließ ihn fast ohne Nachrichten. Was aber hatte ihn denn erfüllt – außer jenen Vorgängen, an die er jetzt nicht denken wollte?
Er suchte im Schweigen, und er fand wenig mehr als einige große und begeisternde Worte seiner Bücher. Gerechtigkeit, dachte er, Wohltun … Freiheit … Und sie machten sein Herz schlagen und erwärmten es mit einem ungewiß flammenden Feuer, während seine Augen starr und ohne Blick auf dem braunbleichen Sklavengesicht seiner Mutter hafteten.