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33

Nicht für lange. Wenige Minuten später wußte er nichts mehr davon, und in völlig verändertem Zustand entschloß er sich endlich doch, sein Zimmer zu verlassen. Er sah, daß die Sonne sich dem Seespiegel näherte, ein düsterer Hauch, ein flüchtiger Schatten schien langsam die freudige Welt zu umnebeln. Matthias erblickte eine junge Dame, die ihre Pelzstola enger um den Hals nahm.

Ohne den Aufzug zu benützen, begab er sich hinunter in das Vestibül. Er ging schleppend, Stufe für Stufe – völlig wieder unter dem Gewicht seines Entschlusses, seines ungläubig gewählten, unwahrscheinlichen und notwendigen Schicksals. Merkte ihm niemand etwas an? Einem Stubenmädchen in schwarzem Kleide, das an ihm vorübersprang, wagte er nicht den Gruß zurückzugeben, aus Furcht, sie könnte seine Augen sehen.

Drei Stockwerke lagen hinter ihm, und er hatte, nach dem letzten Treppenabsatz, das prunkvolle und weite Vestibül unter sich, worin fröhlich gekleidete Herrschaften und die galonierten Diener des Hauses sich durcheinander bewegten. Matthias zauderte einen Augenblick und schritt dann auf dem dicken roten Läufer weiter hinab. Wie er bei den letzten Stufen angelangt war, hörte er eine klingende Frauenstimme sagen:

» Ah, vous voilà! Bon jour Kiprjanoff!«

Dies Begebnis, – daß ihm bei seinem ersten Schritt unter Menschen wie der Klang eines Schicksalhorns der Name des Feindes ans Ohr schlug, überwältigte Matthias. Es war, genau angesehen, kein Wunder hier im Hotel … aber er vermochte nichts genau anzusehen. Er hörte auch nichts mehr, er stand im Brausen; er schloß die Augen, ohne recht noch die Gruppe erkannt zu haben, aus der jene Begrüßung gekommen war. Er wankte ein wenig, seine Hand griff nach der samtbespannten Rampe des Geländers.

Aber dann ermannte er sich … Nur um diese vier Leute, die ihm zunächst waren, konnte es sich gehandelt haben, er erkannte es jetzt. Wie auf Wolken schien er sich selbst zu wandeln, während er der kleinen Gesellschaft durch das Hotelportal über den Fahrdamm der Promenade und weiter auf dem Gehweg der anderen Seite folgte.

Sie taten nur die wenigen Schritte bis hin zu einem ins Meer hinausgestellten Rundgebäude, vor dem sich Wagen und Spaziergänger stauten. Matthias wollte nach ihrem Beispiel ohne Weiteres eintreten, man hielt ihn zurück und wies ihn zum Schalter.

An der Garderobe traf er mit ihnen zusammen. Seine Blicke zögerten nicht, ihre Wahl zu treffen. Das also war er! So sah das Schicksal aus. Es konnte keinen Zweifel geben.

Kiprjanoff war ein untersetzter, dunkelhäutiger Mann von wenig mehr als vierzig Jahren, mit kurzgehaltenem, graufädig dunklem Vollbart, einer Nase, die leicht nach oben gebogen war und die dennoch gewalttätig aussah, mit dichten schwarzen Brauen über kleinen Augen. Matthias ließ, während er auf seine Kleidermarke wartete, von unten nach oben den Blick über dieses Gesicht gehen und ihm war, als hätte er es immer gekannt. Es erleichterte ihn sehr, den Gewalthaber ganz so zu finden, wie sein Abscheu sich ihn gemalt, wie er ihn gewollt hatte … Gut, daß es sich nicht um einen der beiden Anderen handelte, nicht um den ältern Herrn, dem graue Favoris ein leidendes, bleiches Gesicht einrahmten, noch um jenen Aristokraten, der seitlich beim Spiegel stand und sich neckend mit der Dame unterhielt, die vor dem Glas mit einer winzigen Puderquaste hantierte.

Bald war sie bereit, – hatte sie doch kein Derangement, nur einen Weg von zwei Minuten hinter sich, – sie legte die Quaste in ihren kleinen, goldenen Behälter zurück, und alle schickten sich an, die Treppe emporzusteigen.

Kiprjanoff ging als Letzter. Und da beobachtete Matthias eine Szene, die ihn entsetzte – und ihm willkommen war. Am inneren Eingang nämlich war ein junger Diener aufgestellt, eine Art Page in blauem Frack mit Silberknöpfen, vierzehn Jahre alt vielleicht, ein schlankes blasses Kerlchen, dessen Amt es war, vor den Ankommenden mit einer tiefen Verbeugung die gläserne Flügeltür zu öffnen. Diesmal irrte er sich, er ließ nach der Frau nur zwei der Herren passieren und bildete sich ein, es käme nun niemand mehr. Er schaute die Treppe empor gegen den Saal hin, aus dem zarte Geigenmusik drang; vielleicht, daß er der schönen Dame einen Blick nachsandte, plötzlich aber bekam er von der Seite her einen fürchterlichen Stoß, um ein Haar wäre er gestürzt … Kiprjanoff sah den Pagen nicht an bei dieser Behandlung, er gab auch weiter kein Zeichen des Mißmutes über die Unaufmerksamkeit, er stapfte mit seinem schweren, gedrungenen Leibe nur gleichsam über den Pagen hinweg, durch den Pagen hindurch, und notwendiger Weise ergab sich ein Stoß dabei. War da irgend etwas zu tadeln? Gemächlich stieg der General den Anderen nach die Stufen hinauf, der süßen Geigenmusik entgegen, und der junge Diener, etwas blasser noch als vorher, stellte sich eilig zurecht, denn es kamen neue Gäste.

Matthias aber, empört und befreit, sah sich inmitten seiner Aufgabe. Wohl, so war er, dieser Kiprjanoff, so wie er sich eben bewiesen hatte; und schlimm für ihn, daß er sich so bewies! So war er, den Matthias suchte, und den er gründlich treffen wollte! … Blitzschnell erinnerte er sich an gewisse Dinge, die Notowitsch in Lenas Besuchzimmer erzählt hatte. »Und wenn so ein Jude daher kommt auf dem Trottoir,« sagte Notowitsch, »und er weicht nicht schnell genug aus, huitt, gibt ihm so ein Herr einen Stoß, daß er auf die Seite fliegt, er und sein Korb, wenn er einen trägt …« Matthias war daran, mit dem Pagen zu reden, aber der stand in seinen Verrichtungen, als wisse er von nichts mehr. Wichtiger auch war es, ihn zu rächen, auch ihn. Matthias schritt eilig empor.

Betäubt blickte er sich um in dem riesigen, wimmelnden Raum. Das Orchester, das berühmte Teeorchester des Palais de la Jetée schloß gerade sein Vortragsstück mit einem brausenden Akkord, und ein Gesumme von tausend Stimmen, vermischt mit dem Klingeln der Silberstücke, hüllte Matthias in einen entrückenden Nebel.

Er hatte die Gesellschaft aus den Augen verloren und begann einen Rundgang. An einem der Tische, an denen »Boule« gespielt wird, blieb er stehen und sah mit Verwunderung auf die flinken kleinen Croupiers, die das Geld austeilten und zusammenrafften. Ein weißhaariger Engländer sagte mit sonderbarer Aussprache zu seiner Begleiterin: » Mais c'est du vol organisé!« Matthias dachte ernst: Ah, dies ist organisierter Diebstahl … Die Menschen stießen sich und drängten sich um ihn her.

An einem solchen Spieltisch muß es geschehen, sagte Matthias zu sich selber, hier wird es leicht sein. Und er spielt sicherlich. Ja, Lena hat es gesagt …

Er machte sich los, erblickte die russische Gruppe im Mittelbau der Halle und nahm in der Nähe Platz. Die Musik setzte mit einer freudigen Marschmelodie wieder ein, die Violinen brausten silbern. In dem köstlichen Lärm wagte Matthias jene Tischrunde freier zu betrachten.

Der Gouverneur selbst, Kiprjanoff, wandte ihm den Rücken. Der ältere Herr mit dem bleiernen Teint und den Favoris lehnte mit halb geöffneten Lippen in seinem Korbstuhl und lauschte wahrscheinlich der Musik, während seine rechte Hand leise und rhythmisch im Teeglas rührte. Der Aristokrat jedoch unterhielt sich fröhlich mit der schönen Frau.

Denn sie war sehr schön, Matthias sah es jetzt. Was zuerst, zumeist an ihr auffiel, waren die perlmutterglänzenden, dunkelgrauen Augen, die, nach den Schläfen hin mit sanften Schatten gemalt und verlängert, das Gesicht ganz beherrschten. Ihr rötlich schimmerndes Haar kam unter dem schwarzen Spitzenkäppchen, das sie als Hut trug, in feinen Stirnfäden zum Vorschein. Die Stirn erschien schmal und leicht gewölbt, die Wangen vom Puder bereift, den eine Farbe gesunden Lebens durchschimmerte. Der Mund war köstlich: ein wenig breit, aber sehr fein gezeichnet, üppig und klug, veränderte er im Lachen und Gespräch jeden Augenblick seinen Ausdruck. Das Antlitz dieser vielleicht dreißigjährigen Frau, das sich von einem vollen, doch makellos jugendlichen Halse aufhob, konnte Anbetung zugleich und Begierde eingeben.

Matthias hörte während eines Piano, welche Anrede ihr Partner, dieser schmale, gepflegte Herr ihr gab: Princesse.

Matthias wunderte sich nicht, angesichts der Art, wie er die Beiden sich miteinander betragen sah. Eines Abends, nach einer Festvorstellung in der königlichen Oper, hatte er mit Frau Gontard ein Hotel aufgesucht, dessen Speisehalle fast ganz vom höfischen Theaterpublikum besetzt war. Ein Tisch mit Hofdamen war ihm in dauerndem Gedächtnis geblieben, die angemessen voneinander entfernt auf den kleinen Stühlen sehr aufrecht saßen, sich im Gespräch blumenhaft zueinander neigten und auf eine besondere, unbeschreiblich zurückhaltende Weise ihre Fächer bewegten … Dies hier war freier, heiterer, weniger zeremoniös, aber Matthias meinte dennoch, die gleiche Luft zu atmen. Er bewunderte den schmalen, rasierten Herrn, der in seinen Frauenhänden ein Biskuit zerbrach und so anmutig die Stirn zur Fürstin neigte; sie antwortete mit einem leisen, klingenden Lachen auf einen ohne Zweifel vortrefflichen Scherz. Wer mochte sie sein? Nun, es ging Matthias wenig an. Die Hand freilich, die sich gegen solche Menschen bewaffnet erhöbe, müßte erstarren … Aber es handelte sich nicht um sie.

Und Matthias' Blick glitt von Neuem zu dem brutalen, breiten Rücken, zu dem roten, fetten Hals des Generals, die ihm zugekehrt waren. Alle Energie kam ihm zurück. Dieser hier, wahrhaftig, war kein Mensch einer höheren Ordnung, war ein verächtlicher und böser Hund, den niederzustoßen ein Leichtes sein mußte. Und es regte sich in Matthias, wie er auf die feisten Falten des Nackens blickte, mächtig ein Verlangen nach körperlicher Gewalttat … Ja, es mußte schön sein, es mußte wohltun, dieses Tier zu fällen. Ein Dolchstoß für den da war eine leichte Sache, und hier bedeutete sie so viel. Mit so Geringem sich einen Platz im Leben erkaufen zu können, auch wenn es dann hieß das Leben sogleich verlassen, dies war ein guter, ein tröstlicher Gedanke …

Matthias' Hand strich leis über eine gewisse Stelle seiner Brust. In unwillkürlicher Scheu sah er dabei um sich und begegnete den Augen der Fürstin. Mit einem heftigen, ganz unverhüllt verlangenden Blick versenkten sich ihre Augen in die seinen …

Er zwang sich zu glauben, daß er sich täusche. Nicht lange aber: sie war beharrlich. Matthias wußte sich auf seinem Stuhle nicht mehr zu behaupten. In äußerster Verwirrung erhob er sich und ging davon.

Frische, doch milde Abendluft schlug ihm entgegen durch die Tür, die der mißhandelte Page ihm offen hielt. Die Musik, die soeben wieder einsetzte, sandte ihm den Schall eines heftigen Akkordes nach.

 


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