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Im gleichen Augenblick sah er sie kommen. Sie kam langsam, mit sonderbar schleppendem Gang, und mehrmals schien es sogar, als bleibe sie stehen … Lena trug den kleinen Hut mit der braunen Feder und den braunen, wollenen Mantel, die sie an Theaterabenden bevorzugte.
Er stürzte ihr entgegen, nahm stürmisch ihre beiden Hände. »Habe ich warten lassen,« fragte sie müde.
»Beinahe gar nicht …« Matthias war an ihrer Seite, und da sie die belebte Hauptstraße noch nicht erreicht hatten, nahm er zärtlich ihren Arm.
Unter einer Laterne blickte sie zu ihm auf, in sein leuchtendes Gesicht: »Du bist ja so vergnügt?«
»Freilich.« Seine Stimme klang, als unterdrückte er ein Jauchzen. »Sehr vergnügt, wie sollte ich nicht, mit dir am Arm!«
»Ja, ja,« sagte sie abwesend und fuhr fort, so als dürfte sie nun nicht länger schweigen: »Ich habe eine schlimme Nachricht bekommen eben …«
»Eben?«
»Auf der Treppe fing mich Doktor Straßburger damit ab. Sie wüten wieder in Rußland.«
»In Rußland?« wiederholte Matthias. Er war so weit von Rußland weggewesen …
»Eine Judenverfolgung. Du kannst wohl nicht ganz ermessen, was das bedeutet …«
Nein, das konnte er nicht. Das Wort erweckte in ihm eine unklare Vorstellung von törichtem Religionshaß. Er dachte: »Judenverfolgung, Christenverfolgung, – wie lange her, wie weit fort!« Der Gegenstand dieser Begriffe war ihm so fremd, daß sein Herz nicht vor ihnen schlug. Es kam ihm auch nicht einmal in den Sinn, eine solche Nachricht müsse gerade seiner Freundin besonders nahe gehen … Zum ersten Mal erfüllte sie ihn so ganz! Ein zugleich übermütiges und demütiges Glücksgefühl war immer noch so beherrschend mächtig in ihm, daß er von einem Augenblick zum andern vergaß, was sie gesagt hatte. Fröhlich blickte er auf sie hin …
Aber Lena war blaß und unbeweglich ernst. Sie sagte: »Wir wollen fahren.« Matthias gab einem Automobilführer das Zeichen.
»Du warst göttlich heute, göttlich, göttlich,« sagte er, neben ihr auf dem Wagenpolster, und drückte ihre Hände. Sie erwiderte: »Ach« und hatte eine Kopfbewegung, als weise sie dergleichen Nichtigkeiten fort. Da besann er sich, schämte sich und fragte schüchtern, ohne rechte Überzeugung: »Ist das sehr schlimm – dort in Rußland?«
Keine Antwort kam, aber im Licht vorüberfliegender Laternen sah Matthias Tränen, die Lenas Wangen hinabliefen. Sie nahm ihr Spitzentuch aus der Tasche …
»Davon wird auch nichts besser, von Tränen,« sagte sie. »Man muß eben was tun, ein wenig helfen.« Sie setzte sich mit Energie zurecht, wandte sich Matthias zu … Aber schon hielt der Wagen.
Unter der Türe zögerte Matthias. »Ich weiß,« fragte er leise, »es ist dir nicht ganz recht … möchtest du doch lieber allein sein? Nur … ich käme so gern …«
»Ja, komm nur,« sagte sie.
Aber während sie hinaufstiegen, dachte sie mit der illusionslosen Klarheit einer Leidenden: »Nie war er doch so dringlich … niemals war er eigentlich in mich verliebt, nein. Was hat er sich nun für einen verkehrten Tag ausgesucht, um damit zu beginnen …«
Sie fühlte sich verlegen und geärgert, als er dann in seinem Frack vor ihr stand und sie strahlend betrachtete. Wirklich, was wollte er hier, heute, da diese Nachrichten gekommen waren … Er war fehl am Platze.
Mißmutig stand sie aus ihrem Sessel auf und machte sich am Schreibtisch zu schaffen. Matthias folgte ihr, unwiderstehlich nachgezogen …
Er hatte den Schleier vor seinen Augen. Sie blieb die Nordländerin für ihn, sie blieb eine von den herrschenden Frauen, den bezwingenden, unbezwingbaren, von jenen, die sich noch als Geliebte im Innersten versagten … Und dank der sonderbarsten Verkettung hatte Lena heute wirklich etwas von diesem kaltleuchtenden Phantom. Dank der sonderbarsten Verkettung machten die Leiden ihres unterdrückten und geschändeten Volkes ungefähr das aus ihr, was dienendes Blut in unterwürfiger Verzückung erträumen mochte …
»Nein, nein, laß du mich,« rief sie, da Matthias sie von rückwärts umschlang, »du merkst doch wohl, daß ich ganz benommen bin!«
Er stammelte: »Verzeih, ich vergaß, ich bin so glücklich …«
»So, du bist glücklich, nun also schön, schön. Es geht dich ja freilich nichts an. Du brauchst es nicht mitzufühlen, das ist wahr …«
»Aber du hast mir ja nichts erzählt, du hast kaum angedeutet … Ich weiß ja nichts …« Er verwirrte sich.
»Laß gut sein«, sagte sie. »Geh nur …« Sie wies mit einer Kopfbewegung nach der Türe, die zum Schlafzimmer führte.
Mit Kälte gewährte sie sich, das blasse Gesicht im schwachen Lichtschein emporgewendet. Sein Mund stammelte und stöhnte auf ihrer Schulter, ihrem Halse. Seine Augen waren blind von süßen Tränen.
Später dann fragte er sie: »Immer denkst du daran? Liebe, jage es fort!«
Aber sie blieb in ihrer Starrheit. Mit geringschätziger Miene hörte sie ihn reden, der nicht zu ihr, zu den Ihren gehörte. Schließlich, als er ratlos schwieg, sagte sie: »Du weißt gewiß nicht mehr, was du auf der Terrasse am Meer über die Armen und Beleidigten gesprochen hast? Es waren eben nur Worte, jetzt magst du nichts hören, weil es Juden sind.«
»Aber ich will dich hören«, rief er.
»Du willst nicht. Und so will ich dich nicht. Wenn du wüßtest, wie weit mein Herz jetzt von dir fort ist, du kalter, aufgeregter Junge!«
Das Wort brannte; aber noch diesen Schmerz preßte sich Matthias, liebend, tief in die Seele. Sie verachtete ihn, und er verdiente solche Verachtung. Wie er sie liebte … Ein bitteres Genießen warf ihn auf Lenas bleiche Hände, daß er sie küssen mußte.
Lena riß sie ihm fort. »Laß das jetzt, hörst du, laß mich!«
Er stützte sich seitwärts ein wenig auf und schwieg. Er litt und träumte. Und plötzlich, von einem Augenblick auf den andern, wurde er müde, unendlich müde, ganz wie jemand, der einen weiten Weg hat zu Ende bringen müssen, aber nun hinsinkt.
So aber verhielt es sich. Matthias war weit gegangen an diesem Abend: bis zu den äußersten Grenzen seiner Bestimmung. Innig zu dienen, dies war es ja, was ihm bestimmt war, – angemessen zu dienen, so wie die Heiligen und die großen Streiter. Und was ein mitleidloses Schicksal ihm hatte zuweisen können, war nicht das Gesetz seines Herzens, war einzig die Richtung, nach der dies Gesetz sich erfüllen mußte.
Wohl durfte er müde sein. Aus sich verschleiernden Augen sah er auf die ruhende Frau. Sie gab ihm keinen Blick zurück …
Hinter ihrer bleichen Stirn, die Furchen zeigte, rasten blutige und grauenvolle Szenen. Ein langbärtiger Pope lief in lehmschmutzigen Gassen, sein Kreuz hoch aufgehoben, schreiend, geifernd, zur Anfeuerung sich rückwärts kehrend nach einer tierischen Rotte, die hinter ihm keuchte. Es war Nacht, aber Feuerschein war am Himmel. An niedrigen Häuschen zersplitterten Fenster, die Tür krachte.
Sie sah um silberne Leuchter eine Familie … Die Leuchter umgestürzt, das Zimmer in Brand, die Männer – Männer ihres Volkes, getreten, blutig am Boden, die Frauen am Haare geschleift. Sie sah Einen, der ein Kind – ein Kind ihres Bluts, bei den Füßen hielt, es schwang, es gegen die Mauer hieb. Hirn spritzte. Einer riß den Schrank auf und wühlte. Sie sah Blutfäden am schwarzen Kruzifix.
Ihre Phantasie arbeitete wild, doch mechanisch, auf gewohnten Wegen. Sie hatte dergleichen gelesen, sie hatte redend mit solchen Schreckbildern Hilfe erwirkt.
Oh, was galt ihr doch alles andere Elend hiergegen! Hatte sie es nicht auf manchem ihrer Gänge in den armen Quartieren mit Scham und Grauen plötzlich gefühlt, wie weit jene Not und jene Krankheiten von ihrem Herzen waren … Ertappte sie sich nicht darauf, während sie die Hände einer schwindsuchtkranken, fast sterbenden Frau umfaßt hielt und ihr tröstend zusprach, daß ihre Gedanken bei irgendeiner Bühnenrolle waren, und daß sie sich selbst keins ihrer Trostworte sprechen hörte. Und manchmal, wenn der Kopf eines Säuglings, irgendeiner kleinen Waise draußen im Heim, aufgestützt in ihrer Linken lag, – fühlte sie da mehr beim Kontakt des gebrechlichen, pochend warmen Köpfchens, als hätte sie eine Elfenbeinkugel gehalten? Schlimm war dies alles, und nur eine halbe, künstliche und kurze Beruhigung hatte sie in dem Gedanken gefunden, es sei wichtiger, es sei vor allem wichtig, zu wirken, zu helfen …
Dies eben hatte sie ja an Matthias geliebt und gebraucht: seine ziellose, wahllose Glut. Er war unvermögend, irgend zu wirken; aber er loderte, Flamme ohne Besinnung. Er wandelte ihr vorauf, eine Feuersäule. Heute nun erlosch er, heute ließ er sie elend allein, den schlechtesten Augenblick für eine leidenschaftliche Laune wählend, zeigte er sich ohne Ahnung von dem, was sie erfüllte. Denn heute wahrlich brauchte sie sich zum Mitleid nicht zu nötigen, heute geschah ihr selber ein Unglück, heute wurde sie im Innersten mitverwundet und litt flammend im eigenen Blut!
Gerade darum, so hätte sie fühlen können, mochte heute ihr Herz sich genug sein und den Führer entbehren. So fühlte sie nicht. Jedes Mal, wenn ihre Gedanken vom Blut und Grausen der inneren Bilder zu Matthias zurückkehrten, durchtränkten sie sich tiefer mit Verachtung. Und schließlich war er nichts weiter mehr als ein verderbter junger Bursche ohne ein Herz … Mit zusammengezogenen Brauen wandte sie sich nach ihm hin.
Matthias lag, gegen die Kissen gesunken, schlafend, das Haupt ein wenig zurückgelehnt. Seine Lippen waren sacht geöffnet, und ohne daß es lächelte, zeigte sein Antlitz einen Ausdruck von Frieden und Glück. Eine seiner Fäuste lag geballt über der Brust, und es war Lena, die ihn mit sich verringerndem Mißmut betrachtete, als hielte er ein unsichtbares Hiebschwert quer vor sich hin. Matthias war schön wie ein sanfter, doch streitbarer Engel. Sie löschte das Licht.