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31

Das Meer wurde schon hell, als man es bei Genua erreichte, und Matthias in seinem Schlafcoupé kleidete sich an und setzte sich in den kleinen Fauteuil, der dem Bette gegenüber angebracht stand.

Er war aus wirren und bösen Träumen aufgewacht mit einem Gedanken, der ihn noch immer nicht losließ, während der Zug nun leicht, fast ohne Erschütterung, am leuchtenden Meere hinglitt. Träumend hatte er eine fremde Stadt durcheilt, mit Straßen, die völlig deutschen Kleinstadtstraßen glichen. Er war auf der Suche nach diesem Gouverneur Kiprjanoff, von dem er nicht wußte, wo seine Wohnung liege. Die Stadt schien nicht sehr groß, und alle Leute wußten offenbar, wo der General wohnte, aber sie wollten es nicht sagen, sie waren bösen Willens und verbargen das auch gar nicht. Höhnisch lachten sie ihn aus. Jeden von ihnen wollte Matthias zur Rede stellen, aber seine Stimme hatte keinen Laut; auch zerfloß, wer immer vor ihm stand, mit einem Mal in Nebel. Ein neuer Passant tauchte auf, allein Matthias war mit ihm nicht glücklicher …

Das Problem dünkte ihn schwierig, auch nun im Wachen. Wie sollte er, wirklich, in dem menschenreichen Nizza diesen Gouverneur wohl finden, der dort ein Gast war wie andere Leute auch? Dort fiel er nicht auf, dort konnte er nicht hängen und keine Juden verfolgen lassen.

Nicht weniger als zwei Stunden benötigte Matthias, um sich klar zu machen, daß an einem solchen Fremdenorte gewiß ein dienliches Verzeichnis bestehe, eine Liste der Angekommenen, die auch den General und sein Logis ohne Zweifel erwähnte. Ja, dies wußte Matthias bereits in Alassio. Aber San Remo war passiert, ehe er im Reinen darüber war, auf welche Art er sich diese Liste verschaffen könne … Es galt, das Gepäck am Bahnhof niederzulegen und in einem benachbarten Gasthaus sich unauffällig zu erkundigen; vielleicht war ein Caféhaus vorzuziehen. Er legte sich bereits die französischen Redensarten zurecht …

Welche Mühsal! Dinge, die sonst ein Reisender so selbstverständlich vollzieht wie das Atmen, wurden für Matthias zu abschreckenden Hindernissen. Er wäre im Stand gewesen, nach der Zahl der Trittstufen zu fragen, die vom Waggon wohl auf den Nizzaer Bahnsteig hinunterführten, und sich im Voraus die Haltung seiner Füße zu überlegen. Suchte sein Denken sich Schwierigkeiten auf, als Zuflucht?

Jedenfalls war er so hingenommen von ihnen, daß er das Meer überhaupt nicht sah; und nicht früher, als man ihn hinter der Grenze zur Revision in den Gepäckwagen rief, rüttelte er sich auf und bemerkte wirklich den veränderten Charakter des Landes. Mit einem Mal sah er ein paar staubige Palmen und spürte die Wärme.

Was hatte er denn seit so vielen Stunden im Kopfe? Auch den Gouverneur ein wenig, ja. Nur dessen Person aber und seine Wohnung, nicht was er bei ihm wollte und sollte. Und an Lena hatte er sich ganz und gar nicht erinnert. Schwankend auf seinen Füßen, verwirrt, begab er sich in den Speisewagen hinüber. Die gemischte, angeregt lärmende Gesellschaft an den kleinen Tischen erschien ihm glänzend …

Dort, wo er Platz genommen hatte, befand sich noch ein französisches Paar: eine brünette junge Frau war da mit einem Teint von deliziöser Blässe und einem außerordentlich frischen, vollen Mund, der unaufhörlich sprach und lachte, und ein Herr in mittleren Jahren, der sehr nachsichtig und freundlich, mit einem etwas melancholischen Lächeln zuhörte. Die junge Dame war auch, ganz augenfällig, hingerissen von seiner Art, nahm in jedem Moment seine Hand und sah ihn verliebt an, was wiederum mit jenem charmanten und traurigen Lächeln beantwortet wurde.

Man passierte Villefranche. »Oh sieh,« rief die junge Dame, »sieh, Kriegsschiffe, zwei …«

»Englische Kriegsschiffe sogar, Liebling,« sagte ihr Gefährte und blickte unter seinen etwas schweren Lidern hervor auf die schwarzgestrichenen, riesigen Kästen, die in geringer Entfernung vom Lande ankerten. Dann kehrte er sich seiner kleinen Freundin wieder zu und sagte:

»Hier sollten wir einmal herüberfahren, wenn du willst, nach Villefranche. Da wirst du etwas Merkwürdiges sehen. Schau einmal dorthin … so … hinter der weißen Villa hindurch. Siehst du das lange, niedrige Gebäude …«

»Ja, oh ja, jetzt sehe ich … Aber ist es nicht recht häßlich? Ist das ein Vergnügungslokal?«

»Nein, ein Aquarium ist es. Man sieht die herrlichsten Tiere: seltene Fische, Krebse, ungeheure Muscheln, Korallen, so wie sie aus der Meerestiefe kommen, es gibt da Tiere in allen Formen und in jeder Gestalt, absolut phantastisch. Du wirst einmal sehen, kleine Odette, mit was für Geschöpfen du eigentlich auf der Erde zusammenlebst …«

Nie, dachte Matthias, und die Gabel klirrte in seiner Hand, nie könnte ich den Gouverneur feindlich berühren, wenn er diesem Manne hier gliche, aber das ist ja zum Glück unmöglich … Er begab sich in seine Abteilung zurück und erlebte die Einfahrt in den Nizzaer Bahnhof mit einer so gewaltig quälenden Unruhe, als müßte sich beim ersten Schritt auf diesem Boden bereits das Ganze entscheiden.

Doch alles vollzog sich einfach, glatt, ja unirdisch leicht, wie es Matthias scheinen wollte. Er fand das Verzeichnis, fand die Adresse noch auf dem Bahnhof selbst, im Warteraum, und zwar war es eine der ersten, die beim Aufblättern sein Blick traf; und gleich darauf folgte er einem schwarzbärtigen Dienstmann hinaus in den hellen und warmen Frühnachmittag.

Aus irgend einem Grunde dachte er nicht daran, eine Droschke zu mieten, den fragenden Träger verstand er nicht in der Benommenheit, sondern ging weiter und nannte sein Hotel. So setzte sich der Mann von Neuem in Bewegung und schritt, die leuchtend gelbe Tasche über seine blaue Bluse geschnallt, Matthias voran durch das Menschengewühl der Avenue de la Gare.

Matthias blickte unverwandt auf diesen Rücken, auf diese flache, lange Tasche, – die einen zweiten Anzug aus dunklem Tuch enthielt, ferner seinen Frack und soviel Wäsche, daß es für einige Tage hinreichen konnte. Für wenige Tage … zwei Tage, wenn er es ordentlich bedachte … Und rechnete er denn damit, daß, was er vollbringen wollte, binnen zwei Tagen vollbracht sein würde?

Er zwang sich zur Überlegung. Zwei Tage … ja, mehr Zeit war nicht vonnöten. Eine Gelegenheit war auszukunden, nichts weiter. Und sodann: ein Ruck, ein Stoß. Das ist schnell getan …

»Das ist schnell getan,« sprach er ganz laut und war stehen geblieben. Ein paar Leute sahen sich um nach ihm. Matthias raffte sich zusammen und folgte wieder, doch in völliger Entrücktheit, ohne seine Füße zu spüren, dem lasttragenden Führer. Es ging die Avenue vollends hinunter und über einen weiten, von farbigem Leben erfüllten Platz bis ans Meer. Dann waren nur ein paar Schritte noch zu tun, nach rechts hin, auf einer breiten, glänzenden Promenade.

 


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