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Frau Gontard bewohnte den ersten Stock eines der ruhigen und vornehmen Häuser, die es im älteren Teil des Berliner Westens noch gibt. Ihre fünf Zimmer, von denen drei auf einen schönen Garten sahen, waren ohne viel Sorgfalt möbliert und ganz ohne jene meist ein wenig albernen Koketterien, die von den Frauen der Bühne bevorzugt werden. Es fehlten sogar die beliebten Kostümphotographien in anspruchsvollen Rahmen; und ein Bild der Duse, von dem sich Frau Gontard nicht völlig trennen konnte, war ruckweise, nach geheimnisvollen Anfällen von Selbstkritik und Hoffnungslosigkeit, vom Arbeitszimmer immer weiter fort gewandert und hing jetzt in einem kleinen Ecksalon, den Frau Gontard nicht liebte.
Hier suchte sie das Bild mit dem leidenden Göttinnengesicht mitunter auf, sogar im Winter, obgleich der Salon ungeheizt lag, und stand eine Weile davor. Sie las die italienischen Worte der Dedikation: »In neidloser Bewunderung.« Das glaube ich – neidlos, dachte sie böse und traurig, und dann kehrte sie mit der ganzen Zähigkeit ihres Volkes zum Studium einer Rolle zurück.
Sie war gleichwohl eine berühmte Frau. Es hatte sich gelohnt, daß sie erst ihre Eltern in Mannheim, wohlhabende und wohlwollende Spießbürger, mit dieser Leidenschaft für die Bühne erschreckte, und daß sie eine dennoch geschlossene, vorteilhafte Verbindung mit einem Berliner Großkaufmann dieser Leidenschaft wegen zerschlug. Mit dem Beginn ihrer dreißiger Jahre, nicht früher, war sie zur Anerkennung gelangt, aber nun würde sie den Ruhm festhalten, dies schien gewiß.
Frau Gontard war klug genug, um zunächst das zu erstreben, was die Natur ihr freistellte. Niemals war es ihr Ehrgeiz gewesen, vom Theater herab als Weib zu glänzen. Sie fand sich häßlich und hatte einigen Trost daran, bedeutend zu sein. Fast von Beginn an war es die gereiftere und war es die geprüfte Frau, die sie darzustellen unternahm, und obwohl ihr das Letzte, Unerlernbare fehlte, so blieb ihr doch überzeugende Kraft genug, um ein williges und selbst hauptsächlich auf den Intellekt gestelltes Publikum mit hoher Achtung zu erfüllen. Nur war sie sich und dem Publikum gegenüber allzu kritisch, um an diesen Erfolgen sich jemals rein erfreuen zu können. Was sie hervorrief, das waren noch nicht die Wirkungen, die sie hätte hervorrufen mögen. Im Herzen gab sie den wenigen Kritikern recht, die sich nichts aus ihr machten. Sie war im Stande, des Sommers bei einer Erholungsreise vor den Darbietungen eines Bauerntheaters, wo besonders die Frauen mit Aufrichtigkeit sich selber spielten, in Tränen des Neides und der Hoffnungslosigkeit auszubrechen. Ruhm genügte ihr keineswegs, sie moquierte sich ein wenig über den Ruhm. Seelen umzuformen, dies galt es.
Sie ließ sich gerne von anderen Kanzeln hören als der Bühne; wenig Veranstaltungen zu mildtätigem Zwecke gab es, denen sie sich nicht mit Eifer, mit wahrer Hingabe gewidmet hätte, und als sie vernahm, daß eine gewerbliche Vereinigung Vortragskurse für Arbeiterinnen einzurichten gedachte, war sie unter den Ersten, die ihre Zeit und Arbeitskraft umsonst zur Verfügung stellten. Die Frauen und Mädchen der Arbeiter kamen, lernfreudig und geschult zu hören, wie man in dieser Schicht es heute ist, und Frau Gontard hielt den Ernst dieser blassen, im blassen Gaslicht eines Schulfestsaals zu ihr emporgewendeten Frauengesichter höher wert als den Beifall einer Premierenmenge. Sie tat Gänge in die armen Bezirke des Nordens und des Ostens, sie gab ihr Geld hin. Sie war von Natur nicht ungütig, das ist selten in ihrer Rasse, aber eine geheime Verzweifelung über die Unzulänglichkeit, über die Unfruchtbarkeit ihrer Effekte machte etwas aus ihr wie eine Heilige des Effekts.
Sie suchte mitten im Berühmtsein, im brandenden Erfolg, mit ängstlichen Füßen einen Fleck Erde, auf dem sie wahrhaft stünde, und dieses Tasten führte sie aufwärts. Sie wurde feurig und gut aus Sehnsucht nach Glut und Güte. Als ihr Matthias begegnete, war sie fünfunddreißig Jahre alt.