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Eines Nachmittags verließ Matthias, im Gefühl daß Lena ungestört zu arbeiten wünsche, die Wohnung, stieg erst ein wenig ins Land hinein, kehrte zum Meere zurück und verweilte sich da. Die Ebbe hatte begonnen, die mäßige Ebbe der Ostsee, und ein Streifen des Sandes lag bloß. Schwarzgraue, feucht glänzende Muscheln waren angespült, Krabben liefen verzwickt und ruckweise daher, bläulich schimmernde Quallengeschöpfe, denen nicht Lebenszeit genug übrig blieb, um die nächste Flut zu erwarten, wurden, zusehends fast, von dem feindlichen Elemente aufgesogen.
Vor einem mäßig großen Seestern machte Matthias Halt. Leise, doch krampfige Erschütterungen gingen durch den fünfgezackten, rotgelblichen Leib, und wie Matthias sich niederbeugte, erkannte er, daß das Tier von der weichenden Flut auf dem Rücken liegend zurückgelassen worden war. Behutsam faßte er das fremdartige Geschöpf und kehrte es um. Aber wie er nun die Rückenseite vor sich hatte, welche körniger und etwas dunkler anzusehen war, schien dem Flutwesen vollends alle Beweglichkeit abhanden gekommen zu sein. Es stellte sich tot, unwissend von welcher Macht es berührt worden sei, doch jeder Feindseligkeit gewärtig und auf schützende Täuschung bedacht.
Matthias hatte sich niedergekauert und beobachtete. Er hätte wahrhaftig gewünscht, diesem eingekrusteten Denken da klar zu machen, daß er voller Wohlwollen sei, daß von ihm, Matthias, nichts zu befürchten stehe, und es wurmte ihn sogar ein wenig, derart verkannt zu werden. Mit welchen Kreaturen lebte man doch zusammen auf diesem Erdball! Keine Brücke der Verständigung, keine der Güte vom Menschen zu ihnen … Wer ihnen wohltat, wer ihnen einen Dienst tat – sie vermochten ihn gar nicht zu erkennen. Sah solch ein Tier den Menschen überhaupt, sah es auch nur ein Stück von ihm? Besaßen Wesen gleich diesem auch nur Augen? Eine Lust ergriff Matthias dies zu untersuchen, aber er wagte den kleinen Erschreckten nicht unnütz mehr zu stören. Wenn es aber der Fall war, wenn solch ein Seestern Augen besaß, wo befanden sie sich? Vorne vielleicht, an den Spitzen der Arme?
Sacht fing das Meertier an sich zu regen, es kroch, seine Strahlen arbeiteten. Die beiden vorderen waren ein wenig aufgebogen dabei, ohne den Sand mehr zu berühren, schienen sie leise umherzufühlen; die drei nach rückwärts gerichteten aber schoben und zogen. Langsam ging das. Matthias ergriff das Tierchen von Neuem zart mit zwei Fingern, richtete sich auf und trug es einige Schritt weit, dorthin wo die ersten Wasser noch anspülten. Eine rückflutende Welle nahm es mit fort …
Als Matthias sich dann, es war in der sechsten Stunde, dem Hause näherte, sah er ein hübsches kleines Automobil dort halten. Er fand seine Freundin im Gespräch; man trank Tee zu zweien …
Zögernd näherte er sich durch das helle Zimmer. Ihm fiel es plötzlich aufs Herz, daß er Lena niemals in Gesellschaft gesehen hatte, immer waren sie miteinander allein gewesen.
»Komm, mein Freund,« rief sie mit einer animierten Stimme, die er nicht an ihr kannte. Ihr Gegenüber, ein grauhaariger, hell gekleideter Herr, erhob sich mit Höflichkeit. Frau Gontard machte bekannt, und Matthias begriff nach Kurzem, daß er den Leiter eines kleinen deutschen Hoftheaters vor sich hatte, der eigens im gemieteten Wagen von Saßnitz herübergekommen war.
»Wie, bitte,« sagte der Intendant aufmerksam, »wie bitte war doch der Name? Ich habe noch nicht den Vorzug gehabt, Sie auf der Bühne zu sehen …«
Lena klärte dies auf, immer in dieser neuen vergnügten Weise, die Matthias ein wenig erschreckte. »Nein, nein, Exzellenz,« rief sie und keine Verlegenheit war ihr anzumerken, »das war auch kaum möglich. Wir sind nicht Kollegen, noch nicht jedenfalls … kurzum, mein Freund gehört nicht zum Bau …«
»Ah,« bemerkte der Intendant und führte das Gespräch dort weiter, wo er es verlassen hatte.
Matthias hatte kein Work gesagt. Was hätte er sagen sollen? Und es war weiter nun von Menschen und Umständen die Rede, mit denen er nicht vertraut war. Übrigens zeigte sich der alte Herr höflich genug (aber es war eine Höflichkeit Frau Gontard gegenüber), sich bisweilen im Gespräch halb auch an ihn zu wenden. Matthias nahm, in Verlegenheit, nacheinander viele Tassen Tee zu sich.
Auch Lena vernachlässigte ihn keineswegs. Sie lächelte ihm zu, sie bestrich ihm ein Brot mit Honig und schnitt es in kleine Stücke, sie legte auch mehrmals ihre Hand auf die seine, die er dann nicht zu rühren wagte. Es war offenkundig, was sie mit all dem sagen wollte: So, hier, ich verberge nichts, sehen Exzellenz nur her, ich hoffe, es gibt nichts einzuwenden. Niemand hat das Recht, diesen hier zu examinieren, ihn zu fragen, was er vorstellt und treibt, er ist mein Freund, das hat zu genügen …
Es genügte dem Intendanten vollauf. Er hatte Anderes gesehen in seinem langen, eleganten Leben, nicht immer war er Hofbeamter gewesen bei seinem Herzog. Es fiel ihm nicht ein, sich zu wundern; diese gute Gontard sollte sich immerhin amüsieren, soviel es sie verlangte. Sie kam ja schließlich in das Alter, um an so jungen Menschen Geschmack zu finden … Vor ihm hatte sie es nicht nötig, mit solcher Anstrengung unbefangen zu sein. Du lieber Gott, mochte sie den hübschen Jungen doch vor ihm abküssen …
Er wurde immer liebenswürdiger, erzählte kleine hübsche Geschichten und rauchte ganz schmale Cigaretten dabei, Damencigaretten eigentlich. Er blieb noch länger als eine Stunde, es war ihm behaglich …
Matthias litt sehr in dieser Stunde, und sein Herz veränderte sich. Nicht für sich allein empfand er eine quälende Peinlichkeit, sondern durch das Vermögen, fremde Seelen mitzuumspannen, das ihm eigen war, litt er in drei Gestalten. So belud er sich mit einer Last, die auf Frau Gontard von Minute zu Minute weniger und auf dem Besucher gar nicht lag. Wie muß sie sich für mich und an mir schämen, dachte Matthias, und wie abscheulich muß die Situation auch für ihn sein. Dergleichen konnte er nicht erwarten, als er herfuhr, der vornehme alte Mann. Nun findet er vor lauter Beschämung nicht den Augenblick, um aufzubrechen …
Dennoch – die vorgestellte fremde Unlust, die er auf sich nahm, war das Geringere. Für ihn selbst bedeutete diese Stunde ein wahres Unglück, bedeutete sie das Ende einer Zeit von wunschlosem Frieden.
Mit welchem Rechte denn saß er hier neben diesen beiden Menschen voller Verdienst … Nein, nicht so war die Frage zu stellen: mit welchem Rechte war er denn irgendwo auf der Erde?
Was lasse ich mir einfallen, sprach er zu sich, – und in seinen stummen Vorwürfen brach sich Bahn, was eine Menschenseele sonst vielleicht an Pflichtbewußtsein über lange Zeiträume verteilt – was lasse ich mir einfallen? Ich rege mich nicht, ich rühre mich nicht. Ich lasse mich verhalten wie ein Tier, ich schicke so wenig einen Gedanken in die Zukunft wie ein Tier. Wenn mich einer danach fragte, was ich bin und was ich vorhabe – nichts vermöchte ich zu antworten. Ich müßte sagen: der Reisekamerad einer Dame bin ich. Fertig …
»Nimmst du noch etwas, mein Lieber?« fragte ihn Lena. Matthias erschrak. Er schüttelte bestimmt und finster den Kopf … Der Intendant blickte ihn von der Seite her an. Matthias fühlte, daß er gut daran täte, aufzustehen und die Veranda zu verlassen, aber, wie er es kindlich genug dem alten Hofmann zuschrieb, so fürchtete er selbst sich davor, die Gesten und Worte des Abschieds zu vollführen. Er blieb auf seinem Stuhle und sah mit verdüsterten Augen über die Eisenbalustrade seitlich auf das Meer, welches, verebbt, in der Ferne dunkle, grüne und blaue Streifen zeigte …
Wahrhaftig, Lena hat mich aufgelesen, wie man zerstreut einen Kiesel aufheben könnte aus einem großen Haufen von Kieseln an der Straße! Wie mich gibt es Hunderttausend … nein, wie mich gibt es Keinen. So unnütz gibt es Keinen. Ich kenne nichts, ich vermag nichts, ich bin nichts. Selbst Lena, die Gütige, ist nicht im Stand, sich meine Zukunft vorzustellen, sonst hätte sie gewiß einmal davon gesprochen. Oh, ich will wieder ein Diener werden, wie ich es war. Aber nein, das genügt nicht, ich werde ein Erdarbeiter werden, ein Steinklopfer werde ich werden … Ich will mich gerne in schwerer Arbeit abmühen, ich will mich gerne erniedrigen, ich will mich treten lassen, treten, um die Existenz voller Nichtigkeit und Müßiggang und Unrecht abzubüßen, die ich seit Wochen geführt habe … Unrecht habe ich getan, ich habe diese schönen Tage nicht verdient, denn – und es war ihm, als stürze er mit diesem Gedanken erst in den tiefsten Abgrund des Unglücks und der Scham – ich habe Lena betrogen, sie, die Liebe, Wunderbare, wohl habe ich gesucht, ihr ein wenig zu dienen, aber es war nicht im rechten Geist. Ich habe ihr gleichgültig gedient, ohne die Sehnsucht zu vergehen in ihrem Dienst. Heimlich habe ich mich neben sie gestellt. Sie war nicht ganz meine Herrin, obwohl ich ihr aus niedriger Berechnung ergeben war. Ich liebe sie nicht … ich bin verworfen. Ich bin ein schlechter, ein falscher Knecht. Sie ist nicht die Frau, der ich gehöre. Ich bin in ihrer Hand nicht wie ein Tier, das den Gnadenstoß erwartet und das in der Seligkeit, von ihrer Hand zu sterben, noch ihre Hand leckt … Seine Gedanken verwirrten sich, dunkle Bilder quollen in ihm auf, die zu trüben Wolken wurden.
Neben ihm sprachen die beiden noch immer fort, völlig im Wohlgefühl. Frau Gontard, obgleich sie den Bühnenklatsch sonst nicht liebte, unterhielt sich herzlich; denn der Intendant erzählte hübsch, wenn er mit Frauen zusammen war. Viele Frauen hatten ihn gern gehabt, weil er so amüsant erzählte.
Matthias sah das Meer schon dunkeln, darüber an den Wolkenbänken erschienen blutrote Säume. Ihm war zu Mut, als weinte er, doch als stürzten seine Tränen nach innen und verbrennten ihm das Herz. Er dachte: ich bin verworfen. Und was ihn erfüllte, war ein maßloser Drang nach Leiden und nach Vernichtung, als nach der einzigen Möglichkeit für ihn, zu leben und sich leben zu fühlen. Er trug einen leichten Flanellanzug und darunter ein seidenes Hemd, und er atmete gesund im milden Abend. Doch plötzlich spürte er, und mit einem Schauer des Entzückens, die Drahtrippen des Bettes in jener Mansardenstube, die seinen Rücken striemten.