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28

Ziemlich spät erst, nach mehreren musikalischen Vorträgen, und nachdem Frau Gontard klug nuancierend eine Reihe von agitatorischen Dichtungen zu Gehör gebracht hatte, nahm Rümelin das Wort. Der Programmzettel gab nicht an, was er lesen würde, und niemand hätte es vorausgesehen.

Rümelin las in seiner bewunderten einfachen Art zwei Kapitel aus den Memoiren des Fürsten Krapotkin. Er las Einiges über die Zustände vor Aufhebung der Leibeigenschaft, dann eine kurze Charakteristik des Kaisers Alexander des Zweiten und seines Todes, endlich ein paar Seiten über die Tätigkeit der berühmten »Dritten Abteilung« und über die Paulsfestung. Kein Wort von den Juden. Aber wie er las – und dabei schienen ein Zögern oder ein Leiserwerden der Stimme seine einzigen Kunstmittel zu sein – türmte sich als ein unheilvoll finsterer Wall das russische Reich in die Höhe, und die Seelen der Zuhörer wurden in Grauen, Angst und Entzücken versetzt.

Matthias zitterte auf seinem Stuhle; wie gut kannte er noch dies Buch! Er schloß die Augen, lauschte und wußte kaum, ob um ihn die einsame Mansarde der Lehrerswohnung sei oder das ungeheuere, brausende Schweigen der Festung. Rümelins ruhige Stimme, der gerade ihre mundartliche Tönung heute etwas eigentümlich Priesterhaftes gab, veränderte sich, verstärkte sich … Glocken klangen. Rümelin las:

»… Nicht der geringste Ton war vernehmbar außer dem Knarren der Stiefel meiner Schildwachen und dem Läuten der Glocken auf der Festungskathedrale. Sie läuteten nach jeder Viertelstunde, je nachdem ein, zwei, drei oder vier Mal ein ›Herr erbarme dich unser‹, Gospodi pomilui …«

Als Matthias sich durch die Menge gedrängt und den rückwärtigen Aufgang gefunden hatte, kamen ihm Rümelin und Lena bereits entgegen. Er empfand einen Stich in der Brust vor dieser Vergeßlichkeit, und Lena erschrak ein wenig. Sie sagte: »Unten wollten wir auf dich warten.« Er war ihr dankbar für die Lüge.

Ein solides Restaurant in der Stadtmitte wurde gewählt, mit unmodischem, etwas spießbürgerlichem Publikum. Doch auch hier wurde es still, als sie eintraten. Bewunderung und Liebe strömten den Beiden nach, beinahe körperlich fühlbar. Matthias verzog seine Schultern unter dem Einfluß. Dann saßen sie, durch einen Wandschirm verborgen, an angenehmem Orte.

»Lebt dieser Krapotkin eigentlich noch?« fragte Lena, als der Kellner mit seiner Bestellung gegangen war. »Er müßte schon alt sein. Sprach er nicht von Nikolaus dem Ersten?«

Rümelin neigte das Haupt nachdenkend ein wenig zur Seite, mit einem freundlichen Ausdruck, der um Entschuldigung bat.

»Wirklich, ich weiß es nicht … ich kam ganz zufällig an das Buch. Er könnte wohl noch leben, ja, ich glaube, in den Vierziger Jahren ist er geboren …«

»Zweiundvierzig,« sagte Matthias. Es kam wie aus der Pistole geschossen. Er wurde glühend rot dabei.

»Zweiundvierzig,« bestätigte Rümelin mit einer überaus höflichen Geste. Lena wandte nicht ihr Gesicht. Sogleich begann es in Matthias zu wühlen. Als längst niemand mehr an seine Äußerung dachte, verwundete er sich noch immer mit Vorwürfen … Wie albern, wie eitel, mit einer präzisen Zahl sich einzumischen! Er verachtete sich dafür und starrte außer sich noch auf das Tischtuch nieder, als schon aufgetragen wurde.

Man aß ohne Aufmerksamkeit und mäßig. Rümelin und Matthias nahmen beinahe nichts.

»Wovon leben Sie eigentlich, Rümelin?« sagte Frau Gontard mütterlich. »Seit zehn Minuten zerlegen Sie ein Crouton, und dabei ißt man Croutons doch überhaupt nicht mit, das müßte ein so eleganter Held unbedingt wissen …« Aber sie rührte auch selbst nicht viel an, mit ihren Gedanken beschäftigt, und bald ließ man abnehmen.

»Von den russischen Juden sagt er wohl nichts, Rümelin – Ihr Fürst?« Lena fand es nicht nötig, dem Gespräch erst wieder einen Anfang zu geben.

Rümelin besann sich: »Ich glaube nicht … ja doch. Einmal läßt er von Krakau aus verbotene Bücher über die Grenze schmuggeln, und er will den jüdischen Schmugglern, die sich für ihn riskieren, sein ganzes Geld dalassen. Er schüttet seine Börse vor ihnen aus und erklärt, nur so viel wolle er behalten, um dritter Klasse nach Petersburg zu kommen. Aber das erlauben sie nicht. Weh, weh, rufen alle, was Sie sagen! So ein Edelmann dritter Klasse reisen! Niemals! Nein, nein … Und er darf ihnen nur eine Kleinigkeit bezahlen.«

Matthias dachte: Rümelin sagt weh, weh. Sicherlich steht waih, waih in dem Buche. Er sagt es nicht, vor Lena …

»Und sonst erzählt er nichts von ihnen?« fragte Lena. »Ja, so ein russischer Edelmann – ich weiß schon, wie die sind. Juden sind keine Menschen für diese Leute. Vielleicht werden sie vom Bauernelend gerührt, das kann vorkommen. Bauern, jawohl, warum nicht, aber Juden, Juden …«

Rümelin schüttelte den Kopf. »Von ihm glaube ich das nicht,« erwiderte er behutsam. Und es war, als bürge er sanft für einen Bruder. Matthias erzitterte vor Hingebung das Herz.

»Hoffentlich lassen sie unser Geld ohne Schwierigkeit passieren,« sagte Rümelin, der wohl noch bei der Schmugglergeschichte war. »Wir haben doch einen sicheren Mittelsmann?«

Lena entgegnete leidvoll: »Der ist sicher. Wir haben ihn erprobt. Es ist ja nicht das erste Mal.«

»Nein … aber darf man nun nicht hoffen, es sei das letzte? Für jetzt haben die Verfolgungen doch aufgehört, die Blätter jedenfalls sagen das …«

»Für jetzt!« Frau Gontard hatte sich, das Kinn auf ihren beiden blassen Händen, über die Tischkante vorgestützt und schaute zwischen den Männern ins Leere.

»Für jetzt, ja … Seit vierzehn Tagen ist er ja in Nizza. Aber das letzte Mal ist es nicht,« sagte sie, und ihr Antlitz war das einer hoffnungslosen Seherin, »das letzte nicht. So lange es dort Mißjahre gibt … so lange man in den Mißjahren die Steuer nicht heruntersetzt … so lange man zur Deckung das Vieh aus den Ställen holt und verkauft … so lange man dann für die Wut der Bauern ein Ziel braucht … So lange er wieder kommt!« schloß sie und richtete sich mit einem schweren Seufzer in die Höhe.

Rümelin fragte: »Was ist das nur für ein Mensch, dieser Kiprjanoff … Ist er noch habgieriger als die Anderen? Wird in seiner Provinz noch mehr als anderswo unterschlagen und bestochen, daß es so abscheulich zugeht?«

»Ja … auch … Aber das ist es nicht allein. Dieser Gouverneur ist ein Teufel, Rümelin! ein Teufel,« sagte sie, sie rief es beinahe und hielt vor ihr leichtverzerrtes Gesicht eine zur Kralle gekrümmte Hand – was nicht im Geringsten lächerlich wirkte. »Ein Teufel,« sagte sie zum dritten Male, »es macht ihm Freude.«

Nach einer Pause fuhr sie leise fort: »Notowitsch hat mir von ihm erzählt. Sie kennen Notowitsch, Rümelin, nicht wahr? Sie haben ihn bei mir getroffen … dieser bleiche Kleine. Nun, er weiß manches über den General. Schon im Kadettenkorps, als er Schüler der ersten Klasse war, hat er sich ausgezeichnet … Man quält da die Jüngeren, wissen Sie, die Neuangekommenen, und es scheinen böse Zustände zu sein …«

Matthias dachte: ›Krapotkin erzählt es schon.‹ Aber er sagte es nicht.

»Ja, aber Kiprjanoff trieb es zu bunt. Ganz allein die Freundschaft mit einem der Großfürsten rettete ihn damals … Er war nämlich befreundet mit einem der älteren Großfürsten, sehr befreundet, wissen Sie … sonst wäre es ihm wohl schlecht ergangen, sogar in Rußland. Einer von den Kleinen, den Neuen, war nämlich unbotmäßig gewesen, wie es die in der ersten Klasse nannten, er hatte irgendeinen Befehl nicht ausführen wollen … und da verurteilte man ihn zum Tode.«

»Zum Tode …?« sagte Rümelin und schüttelte mit zusammengezogenen Brauen den Kopf.

»Vielleicht hätten sie ihn nicht gerade sterben lassen … Aber auf Kiprjanoffs Vorschlag, denn er war der Beleidigte und hatte die Strafe vorzuschlagen, wurde so verfahren: man errichtete in einem abgelegenen Zimmer ein Brettergerüst, oh, einfacher Konstruktion, und der Kleine wurde darin aufgehängt, nackt … Sein Kinn und sein Hinterkopf lagen auf einem Bretterrahmen, und so schwebte er gebunden an Füßen und Händen, ohne den Boden zu berühren, frei in der Luft. Abends als man schlafen gehen sollte, wurde er installiert, und man ließ ihn so bis in die Frühe. Aber die Fenster standen offen, wissen Sie, Rümelin, und es war Winter, russischer Winter, vielleicht zwanzig Grad Kälte … Notowitsch erzählt, der Kleine sei nachträglich gestorben. Er erzählt auch, daß Kiprjanoff die ganze Nacht bei ihm ausgehalten habe – in einem hübschen Pelz natürlich – daß er zuletzt, wie die Anderen müde waren, allein noch geblieben sei, und daß er allerhand Dinge mit dem Verurteilten getrieben habe in dieser langen Winternacht. Aber ich weiß nicht, ob Notowitsch das wissen kann … Sicher ist, daß man den General in Paris aus öffentlichen Häusern hat polizeilich hinausschaffen lassen, seiner Bestialität wegen. Nun, und tausend Juden sind doch gewiß besser als so ein Mädel aus der französischen Provinz, das sich für ein paar Louisdors mit freundlichem Lächeln alles antun läßt. Denn wenn die Opfer lächeln, so ist es doch nur das halbe Vergnügen …«

Sie schwieg zitternd, erschöpft, und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. Ein Totenschweigen trat ein. Man hörte von den andern Tischen undeutliches Gespräch und Gabelklappern …

Endlich sprach Rümelin mit ganz leiser Stimme einige Worte. Er sagte: »Es wird schon einen Dolch für ihn geben. Sicherlich …«

 


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