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Noch war tiefe Nacht. Matthias ging mechanisch am Meere entlang, weiter und weiter, da seine Füße keinen andern Weg kannten. Lange blieb er allein auf dem überwindeten Wege. Weit draußen erst sah er zwei Menschen kommen, ein verschlungen wandelndes Paar. Zugleich ließ sich über ihm zur Rechten ein dumpfes Brausen vernehmen, ein Eisenbahnzug rollte daher. Im Sternenschein wurde die riesige Maschine sichtbar und hinter ihr eine Anzahl hochgeschlossener, nachtdunkler Güterwagen; sie sahen aus wie gepanzert. Die Frau sagte:
» Voilà la malle des Indes.«
Dies Wort, dessen Sinn ihm nicht völlig deutlich wurde, traf wie mit einer starken, dunklen Welle Matthias' Herz. Er blieb noch eine Weile stehen, als die Zärtlichen lange an ihm vorüber waren, und horchte den lichtlosen Wagen nach …
Dort wo er am Abend gesessen hatte, auf einer der Bänke vor dem häßlichen Zaun, ließ er sich endlich nieder, als sei hier sein Ziel. Das Meer rauschte ein wenig stärker als vor einigen Stunden in dem Winde, der sich erhoben hatte. Ein ganz leichter Morgenschein, eine Ahnung vom Tage nur, ließ sich erkennen, die Sterne fingen an blasser zu werden.
Scham, Trauer, tiefe, tiefe Hoffnungslosigkeit. Matthias' Hirn war nicht mehr zu begreifen im Stande, wie elend er eigentlich geworden war. Aber dumpfes Leiden, schmerzende Öde war sein innerster Zustand, und selbst das gewaltsamste Handeln, das finsterste, – Erlösung mußte es scheinen, leicht, bequem und heiter war es angesichts solch toter Verlorenheit …
Matthias nahm seine Waffe und streifte das grüne weiche Leder ab. Mit dem Zeigefinger prüfte er die Spitze. Er lehnte sich ein wenig auf der Bank zurück, wie bedürftig zu ruhen.
Langsam betastete er seine Brust, zur Linken, dort, wo der steife Einsatz des Hemdes weichem Gewebe Platz machte. Ein kleiner Schmerz wies ihm zwischen zwei Rippen noch die Stelle: hier hatte am Abend unter dem Blick der Fürstin ihn die Eisenspitze gezeichnet.
Sollte er hier ansetzen? Seine beiden Hände umfaßten den kühlen, elfenbeinernen Griff. Nicht schwer mehr würde er sein, dieser Schritt – dieser Stoß. Er war einfache, er war frohe Arbeit gegenüber dem, was gewesen …
Ein dumpfer Schrei, der sich erhob, ließ Matthias sich aufrichten. Er erkannte sie wieder, die schluchzende Klage, und nun hörte er, daß sie eines Tieres Stimme war. Ein unbekanntes Tier rief ihn durch die Nacht. Er lauschte … Und abermals schrie hinter ihm in der umzäunten Farm einer der großen Vögel, vielleicht im Schlafe.
Seltsamer Laut. Verlorener Lebenslaut in dieser Stille zwischen Meer und verbleichendem Himmel. Er ergriff Matthias' Herz, fremdartig hob er es empor aus der Versunkenheit und bleiernen Trauer.
Was für ein Geschöpf sich wohl vernehmen ließ? Was für Tiere noch lebten auf dieser Erde, die er verlassen wollte in der milden Winternacht … Was für Menschen noch atmeten, was für Völker, fremd an Sitten und Trachten … Er hatte wenig gesehen von all dem; wahrlich, er ging früh …
Wieder kam der Ruf, tiefer noch diesmal und länger hingezogen. Rief Natur und alles Ungekannte … Matthias war wacher geworden. Aber wacher werden hieß an diesem Morgen für ihn, näher dem Leben sein.
Er erhob sich und reckte sich in seinem Frack. Es fröstelte ihn nicht sehr. Er reckte sich, um seine Glieder zu spüren. Er atmete tief im streichelnden Winde … Die Lust des körperlichen Daseins, die Empfindung des Jungseins und Kräftigseins nahm unversehens Besitz von ihm. Er begann zu gehen, er schritt aus … Mit raschen, ja mit freien, ja mit starken Schritten ging er den Uferweg zurück …
Der helleren Seite des Himmels ging er zu. Aber noch war lange, lange nicht Tag. Warum soll ich die Sonne nicht mehr sehen, dachte Matthias, man stirbt am Mittag so leicht wie in der kühlen Nacht … Aber dabei verspürte er eine Regung von Zufriedenheit, ja von sanfter Heiterkeit, die er selber nicht ganz begriff.
Was hielt er in der Hand? Seine Finger waren um das weiche Leder der Dolchscheide geschlossen. Der Dolch lag noch dort auf der Bank. Er hatte seine Waffe vergessen … Matthias schüttelte hastig den Kopf und schritt weiter. Er sah im Geist, wie das erste fahle Frühlicht stumpf auf dem krummen Stahl sich spiegeln würde, dann das leuchtende Gold der Morgenstunden, der zückende Strahl des Mittags …
Stark schritt er aus. Schon war er bei den Villen angelangt, schon bei der Zeile der großen Gasthöfe, nun ließ er den seinen hinter sich; abgewendet, mit festem Munde, ging er vorbei. Er überquerte den großen, bepflanzten Platz, in dessen Mitte einige Herren im Seidenhute standen und sich mit elegant heiseren Stimmen von den Spielgewinnsten der Nacht unterhielten …
Er war einzig darauf bedacht, das Meer nicht zu verlieren. Sorgsam folgte er ihm, mit einer unbestimmten Art von Vertrauen und Hoffnung. Er folgte ihm, hin am Quai der noch schlafenden Stadt, immer wandte er dem Meere seine Augen zu. Mit Schwierigkeiten ging er ihm nach. Bald war ein schmales Hafenbassin tief eingeschnitten, das er zu umwandern hatte, bald entfernte sich die Häuserzeile völlig vom Wasser, ein Flußbett verwirrte ihn auch, aber er kam zurück, und schließlich an einer Krümmung seines Weges sah er, daß er den flachen Halbkreis der Lichter nun ausgeschritten hatte, und daß vor ihm ein Kap vorsprang – der Riegel zu neuen Weiten. Nizza, die Stadt so qualvoller Abenteuer, lag hinter ihm, vor ihm lagen die Buchten und Vorgebirge des Mittelländischen Meeres; er konnte ihnen folgen.
Schon verbarg ihm der vorspringende Hügel die Stadt. Einen tief eingeschnittenen Golf glaubte Matthias vor sich zu erkennen und erkannte weiterhin einen mächtig ins freie Wasser vorspringenden Landrücken. Lichter glänzten, sparsamer, da und dort im noch tiefen Dämmer. Aus der Weite trafen Matthias, ein wenig empfindlicher nun, die Winde, das weiche Haar richtete sich ihm auf über der Stirn. Kommt dieser Wind aus Afrika? dachte er, nicht ohne einen Schauer. Ja, hier war Europas Rand …
Ein Gefühl von Freiheit, von ungekannter Jugend, fiel auf Matthias, doch anders, reiner und schöner als dort auf seinem Hotelbalkon über dem Corso. Sein Herz pochte. Was war das … Was war mit ihm? Hier lief er, Matthias, der doch vor Elend und Gebundenheit hatte sterben wollen, am morgendlichen Meere dahin, aufs höchste lastlos und ungebunden, ohne einen Mantel sogar und barhaupt. Hier lief er, befreit und allein, dem Lichte des Tages entgegen, ohne einen andern Führer als Europas Ufer. Und vergessen lag dort, jenseits der Stadt, seine Waffe und spiegelte bald das Licht. War er gerufen worden … Wohin denn lockte Natur mit schluchzendem, dumpfen Schrei?
Will ich vergessen? fragte er sich ernüchtert. Ich muß vergessen, antwortete er sich. Und wahrlich, die Welt ist weit und vielfach genug, man kann vergessen.
Er ging weiter, er ging rasch, er stürmte voran. Ganz blaß war die Nacht geworden. Das Meer war schiefergrau, schon standen Häuser und Gärten längs der Straße mit stumpfen, doch unterschiedenen Farben da. Kunstvoll hob sich die Straße und senkte sich tief. Zweimal, dreimal hörte Matthias aus der Ferne ein Automobil heranbrausen, das Heulen der Sirene wurde zum Fauchen, zum Brüllen, Staub hüllte Matthias ein und gab ihn wieder frei …
Er wanderte abwärts, langsamer. Nun war er müde, mit einem Mal. Nun mußte es süß sein, zu schlafen. Er sah unter sich einen kleinen, dunklen Bestand von Büschen und Bäumen, der hart bis ans Meer heranzutreten schien. Dort würde er sich verbergen, sich hinlegen.
Er verließ die große Straße und kam auf einem Pfade hinab. Unvermutet gelangte er, zwischen den Bäumen durchschreitend, vor ein langes, niedrig zweistöckiges Gebäude mit flach abgeschrägtem Dach. Eine Bank stand an der weißgekalkten Mauer.
Hier werde ich schlafen, dachte Matthias, hier muß ich schlafen. Vor dem Winde schützt mich das Haus. Beim Erwachen will ich gerne nachdenken … über alles. Ich weiß ja, ich habe mir meine Schritte ein wenig leicht gemacht. Erst aber muß ich nun schlafen.
Er fröstelte, doch er bettete sich. Gleich fielen ihm die Augen zu. Er erblickte die Fürstin in seinem Schlafe, matt schimmerte ihr schönes Haupt, ein dumpfer Schrei erhob sich, Meerwind blies, und mit salzigem Anhauch zertrieb er die Erscheinung.