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6

Am Tag des Begräbnisses, eine Stunde ehe der Sarg sollte fortgetragen werden, kamen der Graf und die Gräfin zur Beileidsvisite. Der Graf sprach einige zerstreute und gnädige Worte zum Vater und sodann auch zu den beiden Kindern, die regungslos standen. Er zuckte nervös mit der einen Hälfte seines Gesichts. Matthias fand ihn im Ganzen zu seinem Nachteil verändert, besonders fiel ihm auf, daß in dem braunen Gesicht die Hautpartie um die Nase sich abgebleicht, ja erstorben weiß zeigte. Übrigens sah er nur aus einer Art von Pflichtgefühl mitunter auf den Gutsherrn hin, die Gegenwart der Frau erfüllte ihn ganz.

Sie saß, während die Anderen sprachen, völlig unbeteiligt auf dem ledernen Sofa, einige Blumen in ihrem Schoße, und gebrauchte das Lorgnon, doch offenbar nur, um irgend etwas zu tun. So betrachtete sie aus ihren Steinaugen zuerst ein Bild an der Wand, dann den breiten alten Eichenschrank, endlich den blauen Kachelkranz des Ofens; und alle Teile seines elterlichen Hausrats schienen Matthias unter ihren Augen ärmlich zu werden und zu verbleichen.

Plötzlich spürte er, daß sie ihn betrachte. Wenig hätte gefehlt und er wäre an die Wand getaumelt, von der er in Entfernung stand. Was er in diesem vergangenen Jahr erlebt hatte – wenn auch noch so sehr ohne seinen Willen erlebt – hatte sein Blut zugänglich gemacht: ihm war, als müßte sein Herz vor dieser kalten schönen Dame zerbersten. Er wußte es dumpf schon längst, und brausend bestätigte es dieser Augenblick, daß hier sein Geschick sei, nicht in dieser Frau gewiß, aber in solchen Frauen. Er fühlte sich ohnmächtig und süß vernichtet.

Rücksichtslos tat sie, in die gedämpften Worte des Vaters hinein, eine Frage an Matthias. Sie fragte: »Wie ist das, kommen Sie hierher zurück, wenn Sie mit Ihrer Schule fertig sind?« Zu spät wagte Matthias zu glauben, sie habe sich an ihn gewendet. Er fand keinen Anfang, er stotterte, verwirrte sich. Gelangweilt sah sie von ihm weg, und da ihre Augen von ungefähr auf die Blumen in ihrem Schoße fielen, stand sie auf, schritt durch die schmale Tür ins Nebenzimmer, wo der geschlossene, verhängte Sarg sich befand, und man sah sie die weißen Blumen auf den Flor legen. Sie verharrte einen Augenblick, Matthias' Augen folgten der festen, schlanken Kontur ihres Rückens, sie kehrte zurück, reichte allen die Hand und ging – wie selbstverständlich gefolgt von ihrem Manne.

»Er haut die Leute jetzt«, sagte Susa, während sie unter der Tür stand und dem davonrollenden Wagen nachsah.

»Wen haut er?«

»So die Leute …« antwortete sie vage, »wenn einer etwas falsch macht.« Matthias fühlte, daß er sich empören müßte; davon geschah nichts. Er trat neben Susa hin und erkannte in der Ferne noch den schwarzen Stutz des kleinen, seidenen Hutes – an einer Biegung des Wegs, der sich gleich darauf in den schon winterlichen Wald verlor.

»Wir denken ja nicht an die Mutter«, sagte er laut, ohne daß er es wollte.

»Nein«, erwiderte Susa mit klarer Stimme.

Er blickte sie an; ja, sie war ein Weib mit ihren sechzehn Jahren. Eine Stunde darauf, während in der kleinen Kirche der Sarg eingesegnet wurde, folgte Matthias ihren Augen. Sie tauchten mit versunkenem Glanz in die eines jungen Menschen, der abseits an der Wand lehnte; er war hübsch und gewöhnlich, und der Blick, den er zurückgab, unverhüllt verlangend.

Während die Mutter eingesegnet wird! dachte Matthias, und wieder wollte er sich vorschreiben, zornig zu werden. Doch er erinnerte sich gewisser Auftritte in der Lehrerswohnung und sah schwach und gedemütigt auf seine gefalteten Hände hinunter.

Nach der Beisetzung war er allein zu Hause; er saß auf dem Ledersofa der Wohnstube, dort wo die Gräfin gesessen hatte, und starrte vor sich hin, mit einer bittern Leere im Herzen. Etwas kratzte an der Tür, er öffnete dem Hunde. Wächter war sehr gealtert, zum Mindesten ging er auch in sein vierzehntes Jahr. Seine Augen wiesen eine klebrige Nässe auf, und wie Matthias ihm den Rücken streichelte, kam die Hand an eine offene Wunde, deren Ränder zeigten, daß sie längere Zeit schon bestand, sich nicht mehr schließen konnte. Matthias schauderte ein wenig zurück, denn er neigte zum Ekel, und der Hund, als ob er in ihm läse, blickte ihn trübselig an.

»Ja,« sagte Matthias, »es war zu leicht, dich zu lieben, als du noch schön warst.« Er kniete nieder, zog das Tier zu sich heran und berührte die Wunde mit seinen Lippen. In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Matthias sah den Vater im weiten Gehrock, den Seidenhut in seiner Hand, die in schwarzer Baumwolle steckte. »Wächter ist krank«, sagte Matthias verwirrt.

»Alt. Er benagt sich schon selbst,« sagte der Vater, »man muß ihm Gift zu fressen geben.«

»Gib ihn mir mit, die Lehrerin hat immer Abfälle, er kann unter meinem Bett schlafen.«

»Meinetwegen«, sagte der Vater, der an etwas Anderes dachte.

 


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