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LII.

Ich war auf alle möglichen Eingriffe des Schicksals vorbereitet, und es wäre mir nicht schwer gewesen, meine Taktik nach den Umständen zu ändern. Indessen traf nichts Unvorhergesehenes ein, alles ging programmäßig. Ich stand draußen auf der Treppe, beugte mich über das Geländer und horchte zum Fahrstuhl hinunter. Ich hörte, wie er den Fahrstuhl bestieg und Nr. 304 zum Führer sagte. Daß er ohne weiteres am Portier vorbeigegangen war, konnte ich voraussetzen. Ich hörte, wie der Fahrstuhl nach oben stieg, und lief in mein Zimmer. Gleich darauf wurde an die Tür geklopft, und Dr. Gravenhag zeigte sich in der Türöffnung. Ohne die Tür zu schließen, blieb er einen Augenblick auf der Schwelle stehen und blickte sich forschend im Raum um. Nichts konnte freundlicher und friedlicher wirken als dieses Zimmer. Das Tageslicht strömte voll durch die beiden Fenster, auf dem Tisch lagen einige Zeitungen, ein Füllfederhalter und eine frisch geöffnete Zigarrenkiste.

Ich empfing ihn mit zuvorkommender Höflichkeit, nahm ihm Hut und Stock ab und bot ihm einen Stuhl. Er legte eine gewisse Zurückhaltung an den Tag, die ich durchschaute.

»Setzen Sie sich dort,« sagte ich und zeigte auf den Stuhl am Tische, »dort sind Sie in der Nähe der ausgezeichneten Zigarren, die ich Ihretwegen angeschafft habe, ich erinnere mich aus Kopenhagen, daß Sie ein leidenschaftlicher Raucher sind. Und außerdem befinden Sie sich in der Nähe der elektrischen Glocke, falls das eine Beruhigung für Sie ist.«

Er nahm auf dem bezeichneten Stuhl Platz, und es hatte wirklich den Anschein, als ob es ihn beruhigte. Ich hätte ihm erzählen können, daß ich vor einer halben Stunde die Leitung durchgeschnitten hatte, doch behielt ich diese Weisheit für mich. Er zündete sich eine Zigarre an. Ich nahm ihm gegenüber am Tische Platz. Der Tisch war breit, zwei Armlängen trennten uns voneinander.

Ich beeilte mich zu sagen:

»Ich möchte Ihnen in diesem ungemütlichen Zimmer nichts anbieten (das Zimmer war im Gegenteil sehr gemütlich, ich wollte nur nicht, daß jemand uns zusammen sehen sollte), doch wenn wir unsere Uebereinkunft getroffen haben, dann gehen wir zusammen in das Restaurant.«

»Ich möchte die Sache auch so bald wie möglich aus der Welt haben,« sagte er. »Vor allen Dingen aber möchte ich wissen, was Sie wissen.«

»Sie geben es also zu?«

»Was?«

»Daß Sie Dr. Gravenhag sind?«

»Ja, ich bin Dr. Gravenhag aus Kopenhagen.«

»Derselbe, den man seit drei Monaten für tot und begraben hält?«

»Derselbe.«

»Dadurch sind wir der Lösung schon bedeutend nähergekommen,« sagte ich, »denn es ist nicht meine Absicht, eine große Summe zu verlangen. Nur …«

Er unterbrach mich mit einer Handbewegung.

»Ich habe eine Forderung zu stellen,« sagte er sanft, »und diese Forderung muß erfüllt werden, bevor wir weitergehen.«

»Sie wollen erfahren, wieviel ich weiß. Nun gut, ich weiß alles.«

Er zog eine Grimasse.

»Diese Worte sagen nichts,« bemerkte er.

»Ich weiß, daß Sie Marcus Friis ermordet haben.«

»Das ist nur eine Behauptung, die Sie daraus folgern, daß ich lebe und er verschwunden ist.«

Ich überlegte einen Augenblick, wie ich ihn angreifen konnte. Er fixierte mich scharf und neugierig. Blitzte wirklich in seinem Kopf die Hoffnung, daß ich nichts Bestimmtes wußte, daß alles nur Mutmaßungen meinerseits seien?

»Sie müssen zugeben,« antwortete ich freundlich, »daß Ihre Verhältnisse nicht gut waren, als die Geschichte begann.«

»Zugegeben,« sagte er willig, »aber auch nicht besonders schlecht. Ich hatte ja meine ausgezeichnete Praxis …«

»Wenn Sie sie aber aufgeben mußten?«

»Was hätte mich dazu zwingen können?«

Ich machte eine neue Pause, eine neue Berechnung. Ich wollte mich deutlich ausdrücken und doch nicht zuviel sagen. Und es ist seltsam, wieviel man durch eine Frage ausdrücken kann.

»Geben Sie zu, daß Sie zu jener Zeit sehr verliebt waren in Ihre Frau?«

»Zu jener Zeit lebten wir getrennt,« antwortete er.

»Sie waren aber trotzdem in sie verliebt, wahnsinnig, kopflos.«

»Das mag sein.«

»Sie waren bereit, alles zu opfern, um ein neues Zusammenleben mit ihr zu beginnen?«

»Sie brauchten das Wort verliebt, damit ist alles gesagt,« antwortete Dr. Gravenhag abweisend.

»Gleichzeitig aber wußten Sie, daß sie sich nie wieder auf das bürgerliche Dasein, das Sie ihr bieten konnten, einlassen würde, mitten in dem Kreis der faden Bourgeoisie, die sie verabscheute. Noch dazu ein Leben in Sparsamkeit. Nein, ihr Blick war bereits auf die große Welt gerichtet, sie konnte sich nicht mehr davon losreißen. Ohne eine ganz neue Umgebung konnte kein neues glückliches Dasein gegründet werden. Um also Ihren Wunsch zu erreichen, Herr Doktor, konnten Sie nicht mehr mit Ihrer Praxis rechnen.«

»Dies alles sind sehr scharfsinnige Schlußfolgerungen,« sagte Dr. Gravenhag, »doch verlange ich Beweise, und diese vermisse ich noch immer.«

Es schien, als ob er plötzlich einen Kopf größer geworden sei. Er erlaubte sich sogar, ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln.

»Sie allein hätten sich leicht eine neue Existenz im Ausland schaffen können, zusammen mit Ihrer Frau aber bedurften Sie nicht weniger als eines Vermögens. Dreihunderttausend Kronen halte ich für ein Vermögen.«

»Jetzt kommt also der Beweis,« sagte er ernst, und seine magere weiße Hand ballte sich langsam auf dem dunklen Mahagonitisch.


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