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XXIII.

Vom ersten Augenblick an hatte die Berliner Polizei hier einem Verbrechen gegenübergestanden, das in das rätselhafteste Dunkel eingehüllt zu sein schien. Man kannte nicht einmal mit Sicherheit die Person des Ermordeten, und man kannte nicht die Motive des Verbrechens – war es ein Raubmord, ein Racheakt oder vielleicht ein politischer Mord?

Die einzig dastehende Frechheit und Sicherheit, womit das Verbrechen ausgedacht und ausgeführt war, deutete auf einen gut vorbereiteten Raubmord. Dagegen aber sprach der Umstand, daß man eine recht bedeutende Geldsumme und die wertvolle goldene Uhr im Besitz des Ermordeten gefunden hatte.

Hätte der Ermordete einer weniger friedlichen Nation als der nordischen, hätte er z. B. einem der Balkanstaaten angehört, würde der Verdacht eines politischen Mordes vielleicht nahegelegen haben.

Handelte es sich um einen Racheakt? Man tappte völlig im Dunkeln.

Dazu kam die Bewerkstelligung des Mordes, die die Polizei aufs höchste verblüffte. Man stand hier vor der sonderbaren Tatsache, daß der Ermordete dem Mörder selbst ins Hotel geholfen hatte. Man nahm an, daß das Opfer sich zusammen mit dem Mörder ins Hotel geschlichen und das Schloß mit einem falschen Schlüssel geöffnet hatte, worauf der Mörder nach vollbrachter Tat abermals die Tür mit dem falschen Schlüssel verschlossen und ungesehen das Hotel verlassen hatte.

Nur auf diese Weise war das Drama zu erklären, obgleich der Portier bedenklich den Kopf schüttelte. Er hielt es für unmöglich, daß der Herr von Nr. 304 ungesehen zurückgekehrt sein konnte.

Vielleicht verkleidet?

Vielleicht. Obgleich der Portier auch dies für sehr unwahrscheinlich hielt, da man sehr aufzupassen pflegte und unbekannte Leute nicht die Treppe hinaufgehen ließ. Und selbst wenn diese beiden verkleideten Personen an dem Portier vorbeigelangt waren, so blieb immer noch das gefährliche und schwierige Unternehmen, sich mit dem falschen Schlüssel Eingang zu Nr. 304 zu verschaffen, da beständig Mädchen auf den Gängen zu sein pflegten.

Von dem Mörder war bisher jede Spur verschwunden, und von dem Ermordeten wußte man wenig oder gar nichts.

Während der folgenden Stunden setzte die Berliner Kriminalpolizei ihren berühmten Mordapparat in Bewegung, den man von ähnlichen sensationellen Mordgeschichten kennt, und von dem das große Publikum den ersten Eindruck durch die roten Plakate an den Anschlagsäulen bekommt. Wovon das Publikum aber nichts erfährt, das ist die fieberhafte Tätigkeit, die auf dem Polizeiamt selbst herrscht. Die Affäre bringt den ganzen gewaltigen Organismus in Bewegung und ist wie die Dünungen eines Erdbebens ganz bis in die Vorstädte hinaus zu spüren. Ein Schwarm von untergeordneten Beamten sammelt das grundlegende Material, einen Reichtum von Einzelheiten, bei dem die Aussagen von Straßenverkäufern, Droschkenkutschern und Chauffeuren nicht fehlen. Darauf tritt ein höherer Kriminalbeamter in Funktion, in diesem Fall der Berliner Mordspezialist Dr. Arthur Essen, der telephonisch von einem Ausflug zurückgerufen wurde, und der schon einige Stunden nach der Entdeckung des Mordes die Leitung in die Hand nehmen konnte. Er war ein verhältnismäßig junger Mann, mit leicht semitischem Anstrich, der mehr wie ein studierter Professor als wie ein Polizeibeamter aussah. Mit seinem graubleichen Gesicht und dem fast erloschenen Blick hinter der Brille sah er müde aus, doch wurde von ihm gesagt, daß er mehrere Tage und Nächte ohne Schlaf arbeiten konnte, und daß anderseits das glänzendste Resultat ihn auch nicht belebter aussehen ließ. Seine Studien nach rein wissenschaftlichen Methoden hatten oft den Weg gewiesen, wenn anderen das völlige Dunkel entgegenstarrte. Sein Name war in der Oeffentlichkeit nicht bekannt, in der Kriminalpolizei aber war seine Anwesenheit stets zu spüren.

Natürlich war ihm Dr. Gravenhags Name von der Mordgeschichte in Kopenhagen bekannt, doch wußte er nichts Näheres über die Einzelheiten der Sache, die er nur durch die Zeitungsberichte und einen längeren Artikel in der »Zeitschrift für Kriminalisten« kannte. Nach dem ersten flüchtigen Ueberblick aber kam auch er zu dem Resultat, daß der Ermordete weder Dr. Gravenhag – der ja schon lange tot war – noch Dr. Holborn aus Ribe sei, sondern ein dritter. Und da man die Papiere des seinerzeit ermordeten Dr. Gravenhag und seine Uhr im Besitz des Toten gefunden hatte, ging er davon aus, daß der Tote im Koffer der Mörder aus Kopenhagen sei.

Ein Umstand aber weckte gleich sein Bedenken: die Paßphotographie. Der Paß war von einem dänischen Paßkontor ausgefertigt und von der dänischen Polizei gestempelt. Er lautete auf Gravenhags Namen, und man konnte nicht im Zweifel sein, daß der Tote im Koffer und der Mann auf der Photographie ein und dieselbe Person waren.

Als Arthur Essen nachmittags das medizinische Gutachten der Polizeiärzte bekam, wurde ihm eine neue Ueberraschung zuteil, von so durchgreifender Natur, daß sogar dieser gefühllose Fachmann nicht umhin konnte, einige Worte des Erstaunens über das Rätselhafte des Mordes zu äußern.


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