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XXVI.

An einem Abend zu Ende des Jahres 1920, also anderthalb Jahre nach den geschilderten Ereignissen, saß der Schreiber dieser Zeilen im Restaurant des Hotel Savoy in Malmö.

Eigentlich wohnte ich damals in Kopenhagen und war nur für einige Tage in diesem stillen und vortrefflichen Hotel eingekehrt, um eine literarische Arbeit fertigzumachen.

Den ganzen Tag hatte ich stramm gearbeitet und war sehr müde. Nachdem ich zu Abend gegessen hatte, blieb ich an meinem Tisch in einer Ecke des großen Speisesaales sitzen, ein gutes Stück von der Musik entfernt, die nur wie ein schwaches Summen zu mir drang. Ich hatte mir die Kopenhagener Zeitungen bringen lassen und stieß auf einen Artikel über unaufgeklärte Verbrechen. Der Schreiber ging die unaufgeklärten Verbrechen der letzten fünfzig Jahre durch und erwähnte zum Schluß die Dybhavn-Tragödie, ohne jedoch näher darauf einzugehen, da sie noch in zu frischer Erinnerung sei. Er stellte nur fest, daß sowohl die Kopenhagener wie die Berliner Polizei jede Möglichkeit einer Lösung dieses Rätsels hatten aufgeben müssen, dieser seltsamen Affäre von den beiden Männern, die einander wie Zwillingsbrüder ähnelten, die sogar dieselbe Narbe auf der Schulter hatten und die beide, offenbar ohne Veranlassung und ohne daß man den Täter entdecken konnte, ermordet worden waren. Damit legte ich die Zeitung fort, zündete mir eine Zigarre an und lehnte mich in den Stuhl zurück, um meine Ruhe zu genießen.

Da entdeckte ich mehrere Freunde, schwedische Offiziere, die zu Abend gegessen hatten und sich jetzt erhoben, um zu gehen. Wir grüßten einander. Die Schweden verabschiedeten sich von einem Herrn, den ich nicht kannte. Ich bemerkte, daß alle zu meinem Tisch hinübersahen, und begriff, daß meine Freunde den Fremden auf mich aufmerksam gemacht hatten. Nachdem die anderen gegangen waren, blieb er noch eine Weile an seinem Tisch sitzen, lugte ab und zu zu mir hinüber, während er an seiner Zigarre kaute, und trat schließlich mit einigen verbindlichen Worten an meinen Tisch. Er stellte sich als Robert Robertson vor. Zu Anfang dieses Buches habe ich ihn näher beschrieben. Er wirkte wie ein vollendeter Kavalier. Aber er hatte noch etwas anderes und mehr an sich, jenes Unbeschreibliche, das eine interessante Persönlichkeit kennzeichnet. Einen unbedingt sympathischen Eindruck machte er nicht auf mich, seine Liebenswürdigkeit hatte gleichsam einen Unterstrom von Unzuverlässigkeit. Ich erinnere mich, daß ich bei mir dachte: Ein merkwürdiger Mensch, aber ob gut oder böse, jedenfalls ist er eine Persönlichkeit.

»Sie kannten meine Freunde?« fragte ich.

»Nur ganz flüchtig,« antwortete er, »eine Bekanntschaft aus dem Billardzimmer. Ich bin ein leidenschaftlicher Billardspieler. Nein, nein,« fügte er hinzu, »es ist nicht meine Absicht, Sie zu einer Partie aufzufordern. Ich wollte nur ein wenig mit Ihnen plaudern – wir können so tun, als ob wir in einem Eisenbahncoupé sitzen, nicht wahr, Sie reisen ja auch von Ort zu Ort?«

Er sprach mit einem seltsamen Akzent, daß ich mich fragte, ob er wohl ein Ausländer sei, der längere Zeit in Norwegen oder ein Norweger, der lange Zeit im Auslande gelebt habe.

Er deutete auf die Zeitung, die ich soeben aus der Hand gelegt hatte.

»Wie denken Sie über dies Drama?« fragte er.

»Welches Drama?«

»Die Dybhavn-Tragödie. Ich sah, daß Sie darüber lasen. Ich habe denselben Artikel gelesen.«

Ich seufzte hörbar, denn ich besitze nur traurige Erfahrungen über Menschen, die mich über Verbrechen konsultieren, in der Annahme, daß ich Sachverständiger in solchen Dingen bin. Ich antwortete gar nicht.

»Sie haben die Sache wohl genau verfolgt?« fragte er von neuem.

»Natürlich, wie andere auch. Aber ich bin wie alle anderen nur ein Zeitungsleser.«

»Und Sie haben auf dem Wege des reinen Gedankenexperimentes keine Lösung gefunden?«

»Nein,« antwortete ich, »auch mein Verstand steht still vor diesen seltsamen Ereignissen. Es ist ja fast, als ob derselbe Mann zweimal ermordet worden ist. Können Sie sich eine Lösung denken?«

Er wich meiner Frage aus.

»Erinnern Sie sich,« fragte er von neuem, »daß sich sowohl in der Tasche des Toten in Kopenhagen wie in der des Ermordeten in Berlin ein Retourbillett nach Gentofte befand, das nur für eine Tour benutzt war?«

»Ja,« antwortete ich verblüfft.

»Ich erinnere mich,« fuhr er fort, indem er sich nachdenklich über die Stirn strich, »daß ich in der Zeitung las, dieser Detektiv Fenneslew habe, als er das erstemal im Café Dybhavn war, gehört, wie jemand im Zimmer Klavier spielte.«

»Ich meine mich auch zu erinnern,« sagte ich, obgleich ich mich nicht darauf besinnen konnte.

»Wissen Sie noch die Melodie, die gespielt wurde?«

»Nein,« antwortete ich.

»Es war ›Irmelin Rose‹.«

»Ach so.«

Er nahm eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche, schrieb etwas darauf und schickte den Kellner damit fort.

»Was tun Sie?« fragte ich.

Da lachte er, und in diesem Lachen lag etwas Unheimliches, etwas unerklärlich Unheimliches. Ich hatte plötzlich dasselbe ungemütliche Gefühl, als ob man auf einem einsamen Wege geht und auf einmal von der Furcht befallen wird, daß jemand einem folgt.

»Ach,« antwortete er nachlässig, »ich schickte dem Orchester nur eine Aufforderung, ›Irmelin Rose‹ zu spielen.«


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