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XXXI.

Wenn ich Einfluß auf den Gang der Ereignisse haben wollte, mußte ich Dr. Gravenhag folgen, das war mir klar. Kaum hatte Elias mir von der bevorstehenden Abreise der Herrschaft berichtet, als Dr. Gravenhag eintrat, und Elias verstummte. Der alte Kellner wußte wohl, daß der Amerikaner Geschwätz über die Bewohner der Villa nicht duldete.

Wie immer machte Dr. Gravenhag einen vollkommen ruhigen Eindruck, er aß sein Frühstück mit gutem Appetit und ließ sich Zeit – niemand konnte ihm ansehen, daß etwas Besonderes bevorstand.

Vormittags zwischen neun und elf Uhr war er in der Villa. Es war ein herrlicher Tag, soweit ich mich entsinne, ein Donnerstag, ein frischer Wind jagte muntere Sommerwölkchen über den Himmel. Um so düsterer wirkte die Villa, wie sie unter dem Laub der Linden ganz begraben dalag. Ihre gelben Wände hatten etwas Krankhaftes und Welkes, und die geschlossenen Fenster, die durch die herabgelassenen Jalousien verdunkelt waren, gaben ihr ein lebensfeindliches und unheilvolles Aussehen. Vielleicht aber bildete ich es mir nur ein, weil mir ahnte, daß lichtscheue Ereignisse drinnen vorbereitet wurden.

Von meinem Fenster aus sah ich Dr. Gravenhag aus dem Hause kommen. Obgleich es natürlich nicht beabsichtigt war, erschien seine dunkle Gestalt mit dem langen, schwarzen Bart wie die Verkörperung der Bosheit und des Grauens, als er sich durch die grüne Wildnis des Gartens einen Weg bahnte.

Ich wußte, daß er jetzt zur Station gehen würde, und plötzlich bekam ich den Einfall, ihn zu begleiten. Auf der Landstraße holte ich ihn ein. Tags zuvor hatte es geregnet, und die Sonne hatte die aufgeweichte Straße noch nicht getrocknet. Nachdem wir einander begrüßt hatten, gingen wir jeder auf seiner Seite der Chaussee – bis zum Bahnhof hatte man mindestens zehn Minuten zu gehen.

Seit jenem denkwürdigen Morgen hatte ich nicht wieder mit ihm gesprochen, und ich hatte erwartet, ihn abweisender zu finden, als er war. Er erwiderte meinen Gruß, ohne geradezu unhöflich zu sein, und als ich ihn auf das schöne Wetter aufmerksam machte, antwortete er:

»Das interessiert mich nicht, ich bin kein Naturfreund.«

Darauf wechselten wir einige allgemeine Redensarten, und schließlich bekam ich Lust, ihn etwas zu reizen.

»Auch ich will heute abreisen,« sagte ich, »ich kann keine Motive mehr finden, die mich interessieren. Im Grunde ist es ein langweiliger Ort. So öde, als ob es gar keine Menschen in der Nähe gäbe. Wissen Sie, hin und wieder hatte ich das Gefühl, in einer versunkenen Welt zu leben.«

»Dann hätten Sie lieber zu einem Badeort reisen sollen,« antwortete er, »die Badeorte in Dänemark sind lebhaft genug.«

»Können Sie mir einen empfehlen?« fragte ich. »Soll Ihr Freund vielleicht auch in einen Badeort?«

»Ich kenne die Badeorte hierzulande nicht,« antwortete er ausweichend.

»Ist Ihr Freund sehr krank,« fragte ich, »ich fand, er sah so elend aus.«

»Haben Sie ihn gesehen?« fragte er hastig.

»Ja, einmal von meiner Veranda aus. Seine Frau habe ich auch einmal gesehen, eine wunderschöne Frau, aber etwas kalt und blasiert, wie mir schien.«

An seinem gezwungenen, erbitterten Schweigen konnte ich merken, daß meine Bemerkung ihn getroffen hatte – er schritt schneller aus, aber antwortete nicht.

»Ich bin nämlich Maler,« fügte ich hinzu, »und beobachte scharf.«

Wir konnten jetzt schon das Donnern der Eisenbahn auf den Schienen hören, und Dr. Gravenhag eilte darum zur Fahrkartenausgabe. Ich stellte mich dicht hinter ihm auf, so nah, daß ich ihm ins Gesicht atmete, und pfiff sorglos, was ihn nervös und erbittert machte – er verlangte ein Billett erster Klasse. Indem er sich zu dem Schalter herabbeugte, sah ich, daß sein falscher Bart sich am linken Ohr etwas gelöst hatte. Ich war drauf und dran, zu ihm zu sagen: »Hören Sie mal, lieber Freund, Sie müssen Ihren Bart besser befestigen …« Später habe ich manchmal bei mir gedacht, wenn ich mir damals diesen Scherz erlaubt hätte, würde ich dadurch vielleicht ein Verbrechen verhindert haben. Gleichzeitig aber hätte ich so viel anderes verhindert, das ich nicht ungeschehen machen möchte, daß ich nichts bereue.

Ich sagte also nichts, sondern ließ ihn an mir vorbeigehen. Da bemerkte ich, als er das Wechselgeld in die Tasche steckte, daß ihm eine andere Fahrkarte in die Hand fiel, die er zwischen dem Kleingeld aufbewahrt hatte, ein Retourbillett zweiter Klasse. Er murmelte etwas in den Bart und steckte die Fahrkarte wieder in die Tasche. Es war dieselbe Fahrkarte, die später bei dem Ermordeten gefunden wurde.

Der Zug kam, und Dr. Gravenhag stieg in ein Abteil erster Klasse, während ich in einen anderen Wagen ging. Zwanzig Minuten darauf waren wir in Kopenhagen. Dort verschwand Dr. Gravenhag in einem Auto. Ich verzichtete darauf, ihm gleich zu folgen, wußte ich doch, wo ich ihn später treffen konnte.


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