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XI.

Der Arzt schlug vor, daß Professor Hagbarth Hektor telephonisch herbeigerufen werden sollte, was auch unverzüglich geschah. Dr. Hermansen teilte dem Professor mit, daß man seinen Freund tot aufgefunden habe, und daß er wahrscheinlich das Opfer eines Verbrechens geworden sei. Als Hektor kam, war er darum vorbereitet, wurde aber nicht weniger verstört, als er sah, wie übel sein Freund zugerichtet war. Die beiden Aerzte nahmen jetzt gemeinsam eine gründliche Untersuchung der Leiche vor.

Währenddessen durchsuchte der Kommissar das Zimmer sorgfältig. Nach seiner Scheidung hatte Dr. Gravenhag einen Teil seiner Wohnung abgeschlossen. Zum eigenen Gebrauch benutzte er nur das Eßzimmer und das Herrenzimmer, die nebeneinander lagen. Im Herrenzimmer hatte er ein Bett aufstellen lassen, dort schlief er. Außerdem benutzte er natürlich das Wartezimmer für seine Patienten und sein Konsultationszimmer. Fenneslew öffnete die verschlossenen Zimmer und durchschritt sie alle, ohne etwas Ungewöhnliches zu entdecken. Die Luft war etwas dumpf, da die Fenster so lange nicht geöffnet gewesen waren, die Möbel waren zugedeckt, und das Ganze machte einen öden Eindruck, wie menschenleere Räume zu machen pflegen. Auch im Konsultationszimmer fand er nichts Besonderes, und der Warteraum war wie alle Wartezimmer bei Aerzten vollgestellt mit Stühlen und auf den Tischen alte zerrissene Jahrgänge von Familienjournalen.

Fenneslew stellte danach folgendes fest:

Dr. Gravenhag war einige Tage verreist gewesen, vielleicht aufs Land, vielleicht anderwärts, das würde später festzustellen sein. Gestern abend nach acht Uhr war er nach Hause gekommen. (Die alte Reinmachefrau hatte die Wohnung ja nach acht Uhr verlassen.) Er war in Gesellschaft eines Menschen gekommen, mit dem er ein Glas Whisky im Eßzimmer getrunken hatte. Während sie zusammen saßen, war es Dr. Gravenhag eingefallen, daß er noch einige Worte an seinen Freund Professor Hektor schreiben müsse. Er mag zu seinem Begleiter gesagt haben: Wollen Sie hier einen Augenblick warten und noch ein Glas trinken, ich habe nur ein paar Worte an einen Freund zu schreiben. Worauf er ihn verlassen und sich an den Schreibtisch gesetzt hat. Er hatte erst einige Zeilen geschrieben, als dieser Mann aus dem Eßzimmer zu ihm hereintrat. Natürlich ist er über sein Eintreten nicht erstaunt gewesen, sondern hat den Federhalter ganz ruhig auf das Tintenfaß gelegt. Darauf hat eine Unterhaltung stattgefunden, die mit dem Mord endigte – wahrscheinlich ist diese Unterhaltung kurz gewesen, und wahrscheinlich hat Dr. Gravenhag sich nicht einmal aus seinem Stuhl erhoben. So ähnlich war Fenneslews erste vage Theorie, und er meinte, wenn man die Person gefunden habe, die Dr. Gravenhag an jenem Abend nach Hause begleitete, dann würde man auch den Mörder gefunden haben.

Als er ins Herrenzimmer zurückkehrte, hatten die beiden Aerzte gerade ihre Untersuchung beendigt und unterhielten sich über das Resultat. Sie hatten den Toten auf das Sofa gelegt und seinen Oberkörper entblößt, um möglicherweise noch andere Spuren von Gewalt zu entdecken, aber sie fanden keine anderen Merkmale am Körper als eine Narbe auf dem linken Schulterblatt. Es war eine große Narbe, die die Form eines Kreuzes hatte. Professor Hektor trocknete seine Hände, nachdem er sie gewaschen hatte, und als er bemerkte, daß Fenneslew diese Narbe betrachtete, sagte er, er habe sie schon früher beim gemeinsamen Baden gesehen. Dr. Gravenhag hatte sich vor einigen Jahren durch einen Spiegel verletzt. Die Form des Kreuzes war so deutlich, als ob sie tätowiert worden sei. Der sonst so kaltblütige und sachliche Dr. Gravenhag hatte, seltsam genug, dieser Narbe eine gewisse Bedeutung beigelegt, wie Leute sie kreuzähnlichen Wahrzeichen am Himmel beilegen. Er meinte, daß er dazu bestimmt sei, ein übles Ende zu nehmen. Professor Hektor zeigte auf den Toten und sagte:

»Der Zufall kommt oft dem Aberglauben zur Hilfe. Nun, jedenfalls ist es kein Unglück, plötzlich zu sterben.«

Professor Hektor gehörte zu der Sorte Menschen, deren gute Laune sich durch nichts stören läßt, nicht einmal durch den Ernst des Todes. Man erzählte von ihm zahlreiche Anekdoten, wie er mit einem Scherz auf den Lippen an die schwersten Operationen ging. Er genoß einen europäischen Ruf als Chirurg und war in den guten Kreisen wegen seiner gesellschaftlichen Talente hochgeschätzt. Eine Operation vorzunehmen war für ihn ebenso leicht und natürlich, wie bei einer Mittagsgesellschaft die Rede auf die Damen zu halten. Er hatte so viel gesehen, daß selbst der Tod, in welcher Gestalt er auch auftreten mochte, ihn nicht aus dem Gleichgewicht bringen konnte.

»Kein Zweifel,« sagte er zum Polizeibeamten, »hier liegt ein Mord vor. Selbst ohne den Beweis des Taschentuches kann die ärztliche Wissenschaft feststellen, daß er die Waffe nicht mit eigener Hand geführt hat. Und er ist erschossen worden, während er im Stuhl saß. Sie haben wohl schon eine eigene Theorie fertig?« fragte er plötzlich.

»Er ist gestern abend nach acht Uhr ermordet worden,« antwortete Fenneslew.

»Natürlich – er ist sogar erst nach elf Uhr ermordet worden.«

Der Polizeikommissar stutzte bei dieser Bemerkung, dachte sich aber, daß der berühmte Arzt den Zeitpunkt genau nach der Untersuchung feststellen könne. Darauf entwickelte er seine Theorie, die sich auf die beiden Whiskygläser stützte.

»Sie meinen also, wenn man den anderen gefunden hat, dann hat man auch den Mörder?« fragte Professor Hektor.

»Ja, das ist bis auf weiteres meine Meinung – eine andere Lösung finde ich vorläufig nicht.«

»Dann sind Sie in der glücklichen Lage, daß Sie den Mörder gleich verhaften können,« sagte der Professor. Und indem er auf sich selbst zeigte, fügte er hinzu: »Ich war es nämlich, der gestern abend mit ihm Whisky trank. Und ich verließ ihn um elf Uhr.«


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