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XXIV.

In der grauen Morgenstunde kam Fenneslew aus Kopenhagen und kehrte in einem am Bahnhof gelegenen Hotel ein, machte hastig Toilette, und nachdem er einige Tassen starken Kaffees getrunken hatte, nahm er ein Auto und fuhr zum Polizeiamt. Die Uhr war erst sechs, in den Räumen brannte noch Licht. Er war im Hause bekannt und suchte seine Freunde auf, die ihn zu Dr. Arthur Essen führten. Dieser war soeben gekommen. Er stand über seinen Schreibtisch gebeugt und las in einer Zeitschrift, als Fenneslew eintrat.

»Ich bin so zeitig gekommen, weil ich Sie erwartete,« sagte Arthur Essen, »wir können in dieser Sache nicht weiterarbeiten, bevor wir Aufschlüsse aus Kopenhagen bekommen haben. Noch haben wir den Toten nicht identifizieren können.«

Er deutete auf die Zeitschrift, in der er soeben gelesen hatte.

»Ich war gerade im Begriff, die Abhandlung über den Fall Gravenhag noch einmal zu lesen. Dort steht das ärztliche Gutachten nach dem Mord in Kopenhagen. Und hier«, er zeigte einen Bogen mit Maschinenschrift, »ist das ärztliche Gutachten über den gestrigen Mord. So etwas Merkwürdiges habe ich noch nie erlebt. An gewissen Punkten stimmen beide Gutachten überein. Jedenfalls müssen die beiden Ermordeten viel Aehnlichkeit miteinander gehabt haben. Auch haben wir Gravenhags Papiere im Koffer gefunden.«

»Das genügt nicht,« sagte Fenneslew.

»Und die Photographie stimmt.«

»Auch das genügt noch nicht.«

Arthur Essen sah seinen dänischen Kollegen an.

»Sie scheinen sich schon eine Ansicht über den Fall gebildet zu haben,« sagte er.

Fenneslew zuckte die Achseln.

»Erst möchte ich ihn sehen,« sagte er, »und wenn meine Ahnung sich bestätigt, will ich ein Telegramm absenden.«

»Wohin?«

»Nach Dänemark, an einen Freund des Ermordeten.«

»Sie wissen, wer der Tote ist?« fragte Essen.

»Ich glaube, daß es Dr. Gravenhag ist,« antwortete Fenneslew.

Dr. Essen mußte lachen.

»Gravenhag wurde im Juni ermordet,« sagte er.

»Trotzdem glaube ich, daß dieser Tote Dr. Gravenhag ist,« behauptete Fenneslew eigensinnig.

Essen rief nach einigen Gerichtsdienern, die mit rasselnden Schlüsseln den beiden Detektiven voran durch die langen Korridore gingen. Schließlich gelangten sie in die Abteilung der Gerichtsärzte. Inzwischen war der Tag schon so weit vorgeschritten, daß eine graue Morgenbeleuchtung durch das geriffelte Glas der Dachfenster sickerte. In einem der Obduktionssäle lag der Tote auf einem Tisch, in ein dunkles Tuch eingehüllt. Ein Gerichtsdiener zog das Tuch bis zur Mitte zurück. Der Tote lag halb auf der Seite. In der fahlen Beleuchtung trat die Leichenfarbe mit unheimlicher Deutlichkeit hervor.

Fenneslew betrachtete die Leiche. Ein seltsames Gefühl wird sicher in diesem Augenblick den sonst so kaltblütigen Mann durchrieselt haben, denn jetzt wußte er mit Bestimmtheit, daß er vor einem vollkommen unfaßbaren Rätsel stand – einem Rätsel, das die menschlichen Gedanken unwillkürlich auf das Uebernatürliche lenkte. Er zeigte auf die Schulter des Toten.

»Sehen Sie das Merkmal dort,« fragte er, »das ist eine alte Narbe.«

Dr. Essen nickte.

»Eine alte Narbe von der Form eines Kreuzes,« antwortete er, »ein untrügliches Erkennungszeichen.«

Und als er das starre Staunen seines Kollegen sah, fragte er:

»Was ist Ihnen? Können Sie keine Leichen sehen?«

»Die Narbe,« murmelte Fenneslew, »der andere hatte dieselbe Narbe.«

»Der, der im Juni ermordet wurde?«

»Ja.«

»Und dasselbe Gesicht?«

»Soweit man es beurteilen kann, ja, dasselbe Gesicht, derselbe Kopf.«

Dr. Essen drehte den Kopf des Toten, daß er von dem Licht aus dem Dachfenster voll beleuchtet wurde.

»Erkennen Sie ihn?« fragte er kalt.

Fenneslew zuckte zusammen.

»Ich habe ihn oft gesehen, auf der Straße, in Restaurants, im Theater. Er war eine bekannte Erscheinung in Kopenhagen. Ich könnte darauf schwören, daß es Dr. Gravenhag und kein anderer ist. Jetzt werde ich ein Telegramm an Professor Hektor in Kopenhagen abschicken.«

Dr. Essen nahm seine Aeußerungen mit unerschütterlicher Ruhe hin.

»Wenn wir davon ausgehen, daß dies der richtige Dr. Gravenhag ist,« sagte er, »wer ist dann der andere, der im Juni Ermordete, gewesen?«

»Das war auch Dr. Gravenhag,« antwortete Fenneslew.

Dr. Essen machte eine ungeduldige Bewegung.

»Das ist ja Unsinn,« sagte er.

»Die Narbe,« murmelte Fenneslew, »dieselbe kreuzförmige Narbe.«

»Das kann auf einem Zufall beruhen,« wandte Dr. Essen ein. »Auch die Aehnlichkeit kann Zufall sein, und sie braucht nicht einmal so sehr groß zu sein, denn soeben las ich in der ›Zeitschrift für Kriminalisten‹, daß das Gesicht des anderen teilweise zusammengeschossen war. Vielleicht liegt das ganze Geheimnis in dieser seltsamen Aehnlichkeit zwischen den beiden Ermordeten. Warum wollen Sie Professor Hektor telegraphieren?«

»Weil er ein intimer Freund des Ermordeten war. Er kannte ihn besser als sonst jemand.«

»Und dennoch hat es jemanden gegeben, der ihn noch besser kannte,« wandte Dr. Essen ein, »und ich habe zurzeit fünfzig Detektive ausgesandt, um diese Person zu suchen.«

»Wer soll das sein?« fragte Fenneslew.

»Wer anders als Frau Merete Gravenhag,« antwortete Dr. Essen, »sie hält sich hier in Berlin auf.«


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