Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXIX.

Aus dem ersten Teil von Robert Robertsons Bericht wird der Leser sich erinnern, daß Marcus Friis und Frau Dr. Gravenhag am 8. Mai zusammen durchgingen, und daß sie einige Tage darauf in tiefster Heimlichkeit eine kleine, einsam gelegene Villa in Gentofte bezogen. Ende des Monates trafen dort verschiedene mystische Dinge ein, die von Robert Robertson aus dem nahegelegenen Gasthof beobachtet wurden.

Das Merkwürdige an dem Aufenthalt des Paares in der Villa war nicht, daß es sich versteckt hielt, sondern daß es Dr. Gravenhag selbst war, der sie dort eingemietet hatte und beständig mit ihnen verkehrte.

Als Robert Robertson an jenem Abend im Hotel Savoy in Malmö bis zu diesem Punkt gekommen war, sagte er:

»Wenn ich die Gabe gehabt hätte, in die Zukunft zu blicken, würde ich manches verstanden haben, was mir damals rätselhaft war. Der Sommer war so schön, mein Gemüt leicht und frei, so daß ich vielleicht meiner Natur Gewalt angetan und anders gehandelt hätte, als es sonst meine Art zu sein pflegt. Vielleicht wäre ich eines Vormittags, während Dr. Gravenhag in der Stadt war, in die Villa gedrungen, hätte den kranken Marcus Friis aufgesucht und ihm gesagt: Verlassen Sie das Haus, verlieren Sie keinen Augenblick, es stehen Ihnen furchtbare Dinge bevor … Aber ich wußte ja nichts, ich ahnte nur aus allem, was ich sah, daß ernste Ereignisse in Vorbereitung waren.

Mehrfach hörte ich, wie ›Irmelin Rose‹ auf dieselbe ohrenzerreißende Weise gespielt wurde. Wer spielte, wußte ich nicht, doch konnte es nur Merete Gravenhag sein. Das Spiel setzte stets ein, wenn Dr. Gravenhag zu Besuch kam. In künstlerischer Absicht konnte sie den ohrenzerreißenden Lärm unmöglich hervorbringen. Da kam ich auf die Idee, daß sie Lärm machte, damit nicht Unbefugte etwas anderes hören sollten, das gleichzeitig in der Villa vorging. Vielleicht ein lauter Wortwechsel zwischen ihrem Mann und ihrem Geliebten? Zu dem Zeitpunkt aber wußte der naive und leichtsinnige Marcus Friis ja noch nicht, daß der Amerikaner mit dem langen Bart und Dr. Gravenhag ein und dieselbe Person waren.

Ungern wollte ich in die Villa eindringen, um nicht störend in Geschehnisse einzugreifen, die ich doch nicht verhindern konnte. So viel begriff ich indessen, daß Dr. Gravenhag die Hauptperson sei, und daß seine Frau und Marcus Friis seinem Willen untertan waren. Darum beschloß ich, Dr. Gravenhag auszuspionieren, um dadurch möglicherweise über den Gang der Ereignisse Aufklärung zu erhalten.

Um diese Zeit war es, daß Dr. Gravenhag sich in zweifelhafter Gesellschaft in den Restaurants von Kopenhagen herumtrieb. Es weckte viel Aufsehen, und anfangs war auch ich über diesen Wandel in seinen Lebensgewohnheiten erstaunt. Ich unterschätzte Dr. Gravenhag. Denn ich verstand nicht, daß er kaltblütig und mit Konsequenz ein Drama vorbereitete, das, wenn es zu Ende gespielt war, die Polizei völlig ratlos machen würde. Dr. Gravenhag ging dabei mit einem ungewöhnlichen Scharfsinn und bewunderungswürdiger Berechnung zuwege.

Indessen meinte er wohl, daß sein Leben zwischen den munteren Kriegsgewinnlern von seinem gewohnten Leben noch nicht genug abstach, darum verschwindet er aus den Augen der Stadt und beginnt sein nächtliches Auftreten in dem kleinen Café Dybhavn. Jetzt erst wird es seinen Freunden und Bekannten vollständig klar, daß ihm ein ernstes Unglück zugestoßen sein muß, ein Unglück, das der sonst so solide und kaltblütige Mann in Umgebungen zu vergessen versucht, die seiner in keiner Weise würdig sind.

Ich habe ihn ein paarmal im Café Dybhavn gesehen, habe ihm so nah gesessen, wie ich Ihnen jetzt sitze, und wir haben miteinander angestoßen. Daß er mich erkennen würde, brauchte ich nicht zu befürchten. Ich versichere Sie, kein Mensch kann mich erkennen, wenn ich mich unter einer Maskierung verbergen will. Einmal war es ein Steuermann, der sich mit ihm unterhielt, ein andermal ein kleiner rundlicher Kaufmann. Bei keinem von ihnen schöpfte er Verdacht. Ich aber kam ihm bei diesen Gelegenheiten so nah, daß ich einen starken Eindruck von seinem kalten und berechnenden Wesen erhielt. Tatsächlich tat er alles aus Berechnung, sprach, lachte, trank, ging – alles war berechnet. Für einen einigermaßen scharfen Beobachter war es nicht schwer, zu erkennen, daß ein solcher Mann nicht aus Grund von Sorgen und Mangel an Gleichgewicht in derartige Umgebungen getrieben wird. Im Gegenteil, er war das Gleichgewicht selbst.

Schließlich mußte es auf andere den Eindruck machen, daß er sich so geheimnisvoll bewegte, weil er eine Gefahr fürchtete. Ich beobachtete, wie er Tag für Tag diese Vorstellung aufbaute, so daß man schließlich von ihm sagen sollte: er hielt sich verborgen, weil er für sein Leben fürchtete, weil ihm eine große Gefahr drohte … Alles aber war nur kalte Berechnung, er verriet eine grausame Kaltblütigkeit, und ich erinnere mich, daß ich einst zu mir selbst sagte: Wenn dieser Mann die Absicht hat, Selbstmord zu begehen, dann will er die äußeren Umstände so zurechtlegen, daß es den Anschein hat, als ob er ermordet worden und schon lange von einem geheimen Mörder verfolgt worden ist. Doch war er weit davon entfernt, sich das Leben zu nehmen. Und jetzt nähern wir uns dem 16. Juni, dem unheimlichen Tage, als der erste Mord geschah.


 << zurück weiter >>