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XXX.

Man wird sich erinnern, daß Dr. Gravenhag das Café Dybhavn stets so zeitig verließ, daß noch die Dunkelheit ihn decken konnte. Wohin aber begab er sich? Die Polizei hat es nicht ausfindig machen können, ich aber habe es die ganze Zeit gewußt. Er ging jedesmal zu seiner Wohnung durch die menschenleeren Straßen. Als ob er sich nicht auf die Dunkelheit verließ, hatte er immer noch seinen Rockkragen hochgeschlagen. Wenn er sich seinem Hause auf der menschenleeren Straße näherte, blickte er sich immer vorsichtig um, ob niemand ihn ins Haus gehen sah. Wenn ich ihn während dieser Nächte beobachtete, meinte auch ich, er fürchte etwas oder jemanden; bald aber wurde es mir klar, daß er nichts anderes fürchtete, als von seinen Bekannten gesehen zu werden.

Die Male, als ich ihm gefolgt war, mußte er einige Stunden auf seiner Chaiselongue geruht haben, da die alte Aufwartefrau das Bett stets unberührt fand. Das Leben auf den Straßen hatte schon begonnen, die Milchkarren klapperten und die Arbeiter gingen zu den Fabriken, wenn er endlich wieder aus seinem Hause kam.

Wie sicher fühlte er sich, wenn er in seiner amerikanischen Verkleidung, mit dem langen, dunklen Bart auf der Straße stand. Er blickte zum Himmel auf und zündete sich – mit einer Geste, die ihn verriet – eine Zigarre an, worauf er selbstgefällig, in dem sicheren Bewußtsein, von niemandem erkannt zu werden, die Straße entlangging. Eines Tages betrat er eines der Cafés, die zeitig am Morgen aufmachen, aß einige Semmeln und trank ein Glas Milch. Wie er noch dort saß, kam der Steuermann herein – es war kein anderer als ich. Einen Augenblick unterbrach er sich beim Essen, und ich begegnete seinem prüfenden Blick. Gleich darauf aber beruhigte er sich, als ich mich lärmend und halbbetrunken mit einer anderen angesäuselten Gesellschaft anfreundete. Zu diesem Zeitpunkt wußte ich noch nicht, was geschehen sollte; da ich aber alle diese vorsichtigen und umfassenden Vorbereitungen sah, war ich überzeugt, daß es sich um eine wichtige und gefährliche Sache handelte, und ich kann nicht leugnen, daß ich von einer aufreizenden Neugierde geplagt wurde, einer Erbitterung darüber, daß ich den Zweck nicht erkannte. Ich hatte die größte Lust, auf ihn zuzugehen und zu ihm zu sagen: ›Mein Herr, ich kenne Sie, Sie sind gar nicht der Amerikaner Barfod, Sie sind Dr. Gravenhag – warum verkleiden Sie sich, und was bedeutet die Komödie in der Villa Lindenhof?‹

Sicher hätte solches Vorgehen meinen Appetit auf sensationellen Nervenkitzel befriedigt, ebenso sicher aber wäre mein Leben von jenem Augenblick an ernstlich bedroht gewesen.

Jeden Tag war ich draußen in Gentofte, und jeden Tag war auch Dr. Gravenhag da. Er aß im Wirtshaus, hielt sich aber meistens drüben in der Villa auf. Im Wirtshaus saß er immer auf demselben Platz, auf der Bank in der dunkelsten Ecke. Er erlaubte sich nie einen Luxus beim Essen, wenn er aber gegessen hatte, konnte er es sich nicht versagen, sich eine richtige Zigarre anzuzünden, und es war auffallend, mit welchem Genuß er sie rauchte, als ob er sich an ihr für das bescheidene Mahl schadlos halten wollte. Ich machte keine Versuche mehr, die Bekanntschaft mit ihm zu erweitern, aber wir grüßten uns immer höflich, wenn wir aneinander vorbeigingen.

Einen besseren Schauplatz, um ein geheimnisvolles Ereignis in Szene zu setzen, hätte Dr. Gravenhag nicht finden können. Selten kam jemand in diesen Winkel, ganz in der Ferne hörte man das Geräusch der Landstraße und Eisenbahn, und die Menschen der Gegend waren alle stumpfsinnig und gleichgültig. Der Wirt war immer halbbetrunken, seine Frau beständig von Küchendunst umgeben, und der alte Elias trabte halbblind herum. Da er aber täglich vom Wirtshaus das Essen in die Villa hinübertrug, erfuhr man doch schließlich dies und jenes.

Es hieß, der Herr sei einige Tage krank gewesen, jetzt aber wieder außer Bett. Wieder konnte man seine Schritte oben in dem großen Zimmer hören. Von meinem Ausguck versuchte ich einen Schimmer von Marcus Friis zu erhaschen, doch glückte es mir nie. Er zeigte sich nie mehr auf dem Balkon, und die Jalousien waren immer herabgelassen. Man sagte, daß die Augen des Herrn das Tageslicht nicht vertragen konnten.

Einige Tage vergingen, ohne daß etwas geschah. An einem schönen Sommermorgen aber, als ich in der Wirtsstube meinen Kaffee trank, erzählte Elias, daß die Herrschaft von drüben abreisen würde. Spät abends war noch ein Telegramm gekommen, das sie nach Jütland riefe. Welches der Grund war, das wußte Elias nicht, doch sei es kein Schaden für den Besitzer der Villa, weil die Miete für den ganzen Sommer vorausbezahlt worden wäre.

Die Koffer seien schon gepackt, die Herrschaft wollte abends abfahren. Im Dunkeln, wie sie gekommen war. Es war der 13. oder 14. Juni, ich erinnere mich des Tages nicht genau. Da wurde es mir klar, daß die Vorbereitungen beendigt und das, was geschehen sollte, jetzt eintreffen würde.


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