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XVI.

Natürlich glaubte Fenneslew Frau Kilde nicht. Alle Spuren zeigten ja auf Holger als Gravenhags Mörder. Und wenn ihre Behauptung richtig war, fiel ja seine ganze Theorie zusammen. Darum setzte er sich sofort mit dem Polizeiamt in Verbindung. Die Aufklärung, die er telephonisch erhielt, machte ihn sehr niedergeschlagen. Es zeigte sich nämlich, daß Frau Kilde die Wahrheit gesagt hatte, Holger saß im Loch.

Fenneslew ließ sich den Polizeirapport vorlesen. Holger hatte sich um zehn Uhr herum in einer Wirtschaft im Norden der Stadt aufgehalten, er war angesäuselt gewesen und hatte ein solches Unwesen getrieben, daß man ihn an die Luft setzte. Später hatte er sich in angetrunkenem Zustand auf der Straße herumgetrieben und war schließlich von mehreren Schutzleuten übermannt und in den Trinkerarrest gebracht worden.

Danach konnte Fenneslew folgendes ausrechnen:

Vielleicht hatte eine Verbindung zwischen Dr. Gravenhag und Anina bestanden, und Holger hatte vor Gravenhags Wohnung spioniert und war von dem Schutzmann fortgejagt worden – vielleicht aber war er nur durch einen Zufall dort vorbeigekommen. Als Dr. Gravenhag seine Zusammenkunft mit Professor Hektor hatte, saß er bereits im Loch. Aninas Freund konnte also nicht der Mörder sein.

Als Fenneslew ins Café Dybhavn kam, war er von der Richtigkeit seiner Theorie überzeugt gewesen. Als er den Mantel im Vorraum sah, meinte er, daß das letzte Glied in der Beweiskette gefunden sei und daß man sich nur noch Holgers versichern müsse. Bevor er aber Frau Kildes intimes Lokal verließ, mußte er die ganze Theorie fallen lassen und befand sich von neuem in totaler Dunkelheit. Er sah eine lange und beschwerliche Untersuchung vor sich. Wenn er die Tatsachen, die er bis jetzt gesammelt hatte, aneinanderhielt, dann lag eigentlich der Schluß nahe, – daß Professor Hektor der Mörder war! In seiner Ratlosigkeit beschäftigte er sich einen Augenblick mit dieser Möglichkeit. Aber es war ja absurd! Und Professor Hektor würde sein Alibi sicher leicht beweisen können. Gravenhag war nach vier Uhr des Nachts ermordet worden.

Im Laufe des Abends hatte Fenneslew versucht, sich Aufschlüsse über den Lebenswandel des Ermordeten während der letzten Tage zu verschaffen. Als Frau Kilde begriffen hatte, daß ihr Haus nicht in die Mordgeschichte verwickelt werden konnte, war sie mit Freuden bereit gewesen, ihr Wissen zur Verfügung zu stellen. Außerdem war es ein leichtes gewesen, von den Cafés und Restaurants, wo Gravenhag sich herumgetrieben hatte, Aufschlüsse zu bekommen.

Fenneslew hatte sich nun folgende Frage gestellt: Warum hatte Dr. Gravenhag so plötzlich die muntere Gesellschaft verlassen, die ihn einen Monat gefesselt hatte? Darauf fand er keine Erklärung. Hatte er einen Feind gehabt? Nein. Wahrscheinlich hatte er sich mit der lärmenden Gesellschaft herumgetrieben, weil er irgendeinen Kummer oder Verdruß zu vergessen suchte. Die Gesellschaft ihrerseits hatte auf seine Anwesenheit Wert gelegt, weil er eine angesehene soziale Stellung bekleidete und immer elegant auftrat. Er trank nicht viel und spielte nie hoch. An jenem letzten Abend, als er aus dem Kreise, der im Palasthotel pokulierte, verschwand, hatte er nicht einmal am Spiel teilgenommen, sondern still neben seinem Glase Whisky gesessen und zugesehen, unberührt, mit seiner bekannten ironischen Miene. Er hatte sich nicht verabschiedet, und keiner von den Anwesenden hatte seinen Fortgang weiter beachtet. Man hatte nur nach einer Weile festgestellt, daß er nicht mehr da sei.

Indem Fenneslew die verschiedenen Auskünfte miteinander verglich, wurde es ihm klar, daß Dr. Gravenhag sich in jener Nacht, als er die muntere Gesellschaft verließ, zum erstenmal in Frau Kildes Salons gezeigt hatte. Anina hatte ihn mitgebracht. Er hatte sie auf dem Königsneumarkt angesprochen und gefragt, ob sie ein Lokal wüßte, wo man ein Gläschen zusammen trinken könne, und da Anina sah, daß er ein feiner Herr war, an dem man etwas verdienen konnte, hatte sie ihn mitgebracht. Damit hatten die letzten vier Tage und Nächte seines Lebens begonnen, unerklärlich für einen Mann von Dr. Gravenhags Gewohnheiten. Jede Nacht gegen ein Uhr hatte er sich im Café Dybhavn eingefunden, hatte seinen Mantel draußen an den Nagel gehängt und war in das Lokal getreten, wo er auf einem Sofa unter einer Palme Platz nahm. Er bestellte stets ein Beefsteak, dazu zwei Schnäpse und ein Glas Bier. Während er auf das Essen wartete, las er mehrere Abendzeitungen, die er mitbrachte, und dabei durfte niemand ihn stören, er antwortete nicht einmal, wenn jemand ihn anredete. Nachdem er gegessen hatte, trank er zwei Tasten starken Kaffees und rauchte eine Zigarre, die er immer in der Tasche hatte. Und dann war er für eine Unterhaltung zugänglich. Er rief meistens Anina zu sich und traktierte sie reichlich mit ihrem Lieblingsgetränk Portwein, oder Pottwein, wie auf der Rechnung stand. Es belustigte ihn offenbar, ihrem Geschwätz zuzuhören, das mit fortschreitender Nacht immer sentimental zu werden pflegte, und sie ihrerseits schwärmte für den feinen Herrn, dessen Benehmen sie ganz und gar nicht verstehen konnte, der aber durch sein elegantes Wesen alle ihre Vorstellungen von einem Filmgrafen erfüllte. Hin und wieder kam ein leicht berauschter Gast an seinen Tisch, und dann stieß Dr. Gravenhag freundlich mit ihm an, wehrte aber seine Gesellschaft ab. Dagegen traktierte er die anderen Tische gern mit einer Runde Bier. Er selbst trank nur ein paar Gläser Whisky im Laufe der Nacht. Punkt vier Uhr bezahlte er seine Rechnung und ging. Anina hinterließ er immer einige Scheine, weil er ihre Zeit in Anspruch genommen hatte. In der letzten Nacht hatte er ihr eine silberne Armbanduhr geschenkt. Etwas anderes hatte sich nicht im Café Dybhavn zugetragen. Trotzdem Frau Kilde gern zugab, daß er ein willkommener Gast gewesen war, mußte sie doch gestehen, daß sein Kommen und Gehen etwas unheimlich auf sie gewirkt hatte. Kam er doch mit der Dunkelheit und verschwand, bevor der Tag graute.

Durch diese Schilderung wurde es Fenneslew klar, daß Gravenhag während der letzten Tage Angst gehabt hatte, sich bei Tageslicht zu zeigen. Angst wovor? Dem Mörder zu begegnen?


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