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XXI.

Der Reisende auf Zimmer Nr. 304 war ein sehr ruhiger Gast, der kein weiteres Aufsehen machte. Während der drei Tage, die er im Hotel wohnte, nahm er seine Mahlzeiten regelmäßig im Restaurant des Hotels ein. Er aß immer ausgesuchte Gerichte und trank teure Weine dazu. Im Fremdenbuch hatte er als Grund seiner Reise Studienzwecke angegeben. Diese Studien aber schienen seltsamer Art zu sein, denn er ging nur spazieren und hielt sich die übrige Zeit auf seinem Zimmer auf, wo er die Tageszeitungen las. Etwas Mystisches oder Ungewöhnliches hatte sein Auftreten keineswegs. Er pflegte immer denselben Platz beim Essen auf der Veranda zur Wilhelmstraße einzunehmen und dort saß er unter dem Sonnenzelt, für alle sichtbar, ein leicht ergrauter Herr von Beamtentyp, der kühl und reserviert gegen die Bedienung war, jedoch dem Speisezettel große Aufmerksamkeit widmete und sein Diner immer mit Sorgfalt zusammenstellte. Offenbar beschränkten seine Studien in Berlin sich auf diese Aufgabe. Da er ein gut zahlender Gast war, wurde er immer unter persönlicher Aufsicht des Oberkellners bedient, dem es ein besonderes Vergnügen machte, die feinsten Weine aus dem Keller zu servieren. Die Reisenden mußten beim Polizeiamt angemeldet werden, was in den großen Hotels meistens durch den Portier geschah. Als Heinemann sich deswegen an den Herrn wandte, antwortete dieser, daß er sich persönlich anmelden würde, da er sich gleichzeitig nach etwas erkundigen wolle. Der Portier gab ihm die Adresse des nächsten Polizeiamtes, später aber zeigte es sich, daß er gar nicht dort gewesen sei. Wahrscheinlich war sein Paß nicht in Ordnung gewesen, war wohl gar nicht auf den Namen Dr. Holborn ausgestellt.

Portier Heinemann erinnerte sich noch genau des letzten Tages, weil es den Anschein hatte, als ob der Herr plötzlich etwas zu tun bekommen hatte. Er ging mehrere Male aus, kam nach einer halben Stunde zurück und schien es sehr eilig zu haben. Gegen vier Uhr kam er in die Portierloge, gab seinen Schlüssel ab und sagte, daß er bis zum nächsten Nachmittag fortbleiben würde. Er habe eine kurze Reise vor, das Zimmer solle für ihn reserviert bleiben. Er zündete sich eine Zigarre an, studierte das Theaterprogramm und ging fort.

Tags darauf aber kam er nicht zurück und auch den darauffolgenden Tag nicht. Da es in solchem Fall Sitte ist, daß die Reisenden das Hotel benachrichtigen, wurde der Portier mißtrauisch. Man hatte sich schon darüber gewundert, daß dieser Herr nie Briefe empfing und auch keine Besuche. Eine Durchsuchung seines Zimmers brachte an den Tag, daß sein Gepäck nur aus einer Zahnbürste und einer Tube Zahnpaste bestand und außerdem aus dem riesigen Koffer mit Messingbeschlägen. Der Koffer war sehr schwer. Als der Herr das Hotel verließ, hatte er kein Gepäck mitgenommen.

Als vier Tage vergangen waren, ohne daß der Reisende ein Lebenszeichen von sich gegeben hatte, und das Hotel um Zimmer bestürmt wurde, entschloß der Portier sich, das Zimmer zu vermieten, und ließ den Koffer in den Gepäckraum bringen.

Indessen berührte das Verschwinden des Reisenden den Portier peinlich. Daß ein gewöhnlicher Hotelbetrug vorlag, war ausgeschlossen, denn auf der Rechnung stand nur ein kleiner Betrag, und der Gast hatte weit größere Summen im Speisesaal des Hotels bezahlt. Nachdem einige Tage vergangen waren, hielt der Portier es für angebracht, bei der dänischen Gesandtschaft und dem Konsulat anzufragen, und von beiden erhielt er die Antwort, daß ein Herr dieses Namens nicht bekannt sei und daß es überhaupt in der Stadt Ribe keinen Arzt dieses Namens gäbe. Da bekam der Portier zum erstenmal den Verdacht, daß ein Verbrechen vorliegen könne. Der Mann war und blieb verschwunden.

Daß aber eine so furchtbare Tragödie an den Tag kommen würde, hatte er sicher nicht geglaubt. Eines Tages kam der Garderobewachtmeister zum Portier und beklagte sich, daß der große Koffer von Nr. 304 einen Gestank aussende, als ob Säuren darin wären, oder etwas, das in Verwesung begriffen sei. Der Portier ging mit in den Gepäckraum, und nachdem sie den Koffer berochen hatten, schickte er entschlossen zur Polizei. Er hatte schon so viele Hoteldramen erlebt, daß ihm auch hier ein Unglück ahnte. Ein Detektiv kam; bevor man aber dazu schritt, den Koffer zu öffnen, stellte er einige Fragen von Wichtigkeit.

»Hatte der Herr an dem Tage, wo er verschwand, Besuch gehabt?«

»Nein. Er hat überhaupt niemals Besuch empfangen.«

»Und er ist von niemandem gesehen worden, seit er an jenem Nachmittag um vier Uhr das Hotel verließ?«

»Von niemandem.«

»Hat er sein Zimmer selbst abgeschlossen?«

»Ja.«

»Und seitdem war das Zimmer leer?«

»Ja, und von den Sachen des Reisenden war nichts anderes da, als der Koffer, die Zahnbürste und die Zahnpaste.«

»Hat der Reisende Erregung gezeigt, als er das Hotel verließ?«

»Keine Spur. Er benahm sich wie gewöhnlich.«

Dann wurde der Koffer geöffnet, was übrigens gar nicht schwer war, denn es war ein ganz einfaches Schloß.

Im Koffer lag der Reisende Dr. Holborn selbst.


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