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XVII.

Das Interesse der Hauptstadt, ja des ganzen Landes wurde von dieser seltsamen Mordgeschichte verschlungen. In solchem Fall spiegeln die Zeitungen meistens die Arbeit der Polizei, und man brauchte nur die Kopenhagener Zeitungen jener Tage durchzublättern, um zu begreifen, mit welchen Schwierigkeiten die Polizei zu kämpfen hatte. Anfangs waren die Zeitungen der Meinung, daß die Lösung nicht schwer zu finden wäre, nach und nach aber wurden sie immer bedenklicher, das Publikum verlangte neue Einzelheiten, und diese wurden immer weiter von dem eigentlichen Kern der Sache entfernt herbeigeholt, sie wurden bedeutungsloser, magerer, es war, als ob alles bei einer bestimmten Grenze haltmachte, über die nicht hinwegzukommen war, weil dort jede Verbindung mit der Sache selbst aufhörte. Darüber waren die Zeitungen sich einig, daß Dr. Gravenhag zu einem bestimmten Zeitpunkt irgendeinem drohenden Ereignis begegnet war, das Macht über ihn gewonnen und seinem Leben eine ganz andere Wendung gegeben hatte. Eine der Zeitungen schrieb: »Dr. Gravenhag zeigt während der letzten Monate seines Lebens das Bild eines Mannes, der plötzlich allen Halt verloren hat. Was bis dahin die Grundpfeiler seines geachteten und soliden Lebens gewesen waren, seine Arbeit, sein Ruf als Arzt, sein Ansehen, das alles verliert plötzlich seinen Wert für ihn und er wirft es wie etwas Gleichgültiges von sich. Und dieser zurückhaltende, kaltblütige Mann führt plötzlich ein Bohemeleben, entwurzelt, verzweifelt über seine Verlassenheit, froh über Lärm und ungebildete Gesellschaft. Was ihn zu diesem mystischen Lebenswandel veranlaßt hat, ist nicht gut zu wissen, daß es aber dem allgemeinen menschlichen Vorstellungskreise nicht angehört, das kann man mit ziemlicher Bestimmtheit sagen. Dr. Gravenhag war ein großzügiger Gelehrter, seine wissenschaftlichen Experimente waren weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannt, darum ist der Gedanke vielleicht romantisch, aber nichtsdestoweniger diskutabel, daß Dr. Gravenhag bei seiner Arbeit und seinen Experimenten in eine Situation geraten war, die ihn gänzlich aus der Fassung gebracht hatte. Denn die experimentelle Wissenschaft führt ja in das Gebiet des Geheimnisvollen. Daß irgend etwas ihn bedroht hat, daß er etwas fürchtete, scheint nach dem letzten Abend im Palasthotel zweifellos. In jener Nacht muß dieser sonst so furchtlose Mann etwas gesehen haben, das ihn tödlich erschreckt hat, so daß er sein Glas hingesetzt und die oberflächliche Gesellschaft des hohlen Genusses stehenden Fußes verlassen hat. Von jenem Augenblick an lebt er in einer verborgenen Welt, wo nicht einmal seine neuen Freunde ihn finden können. Tagsüber ist er spurlos verschwunden – ist es nicht merkwürdig, daß ein Mensch von Dr. Gravenhags Aussehen sich in einer relativ so kleinen Stadt verbergen kann? Wenn aber die Dunkelheit hereinbricht und der Lärm des Tages versiegt, dann taucht er in dem düsteren Winkel auf, wahrscheinlich, um Gesellschaft zu suchen in seiner Einsamkeit, und um die Unruhe seines Gemütes in der Nähe von Menschen zu betäuben. Bevor aber das Tageslicht ihn erreichen kann, ist er wieder verschwunden.

Dies alles birgt ein Mysterium in sich, das sich mit dem anderen Rätsel messen kann – wie der Mörder durch die verschlossenen Türen in die Wohnung des Opfers gelangen, den Unglücklichen töten und wieder verschwinden konnte. Aus den näheren Umständen geht hervor, daß Dr. Gravenhag über das Erscheinen des Mörders nicht erstaunt gewesen ist. Hat er ihn erwartet? Professor Hektor hat ausgesagt, daß an jenem Abend über Gravenhags Wesen etwas Verzagtes und Abwesendes lag, wie bei einem Menschen, der seinem Schicksal nicht entgehen kann und fühlt, daß es sich nähert.«

Zum Schluß veröffentlichten die Zeitungen das Resultat der Sachkundigenuntersuchung, das in Kürze darin zusammengefaßt war, daß Dr. Gravenhag Opfer eines Verbrechens geworden sei. Er war mit einem altmodischen Revolver erschossen worden, der mit einem blaukarierten Seidentuch zugedeckt gewesen war. Das seidene Taschentuch hatte der Mörder mitgenommen. Die Polizei fügte die Vermutung hinzu, daß es sich um einen Raubmord handele, daß es aber nicht mit Sicherheit festzustellen sei. Man vermißte die goldene Uhr des Ermordeten (die Frau Kilde und Anina um vier Uhr in seinem Besitz gesehen hatten), im übrigen aber lag kein Einbruchsversuch vor, obgleich sich mehrere Wertgegenstände im Zimmer befunden hatten.

Währenddessen fand die Beerdigung in aller Stille statt. Frau Merete wurde am Tage nach dem Morde telegraphisch aus Berlin herbeigerufen, sie kam schwarzgekleidet, blaß und schön. Als die Beerdigung vorüber war, reiste sie gleich wieder ab und überließ die Angelegenheiten ihres Mannes einem Rechtsanwalt. Auch sie wurde von der Polizei verhört, konnte aber nicht den geringsten Leitfaden geben. Sie war nicht gerichtlich von ihrem Manne geschieden und hatte während der letzten Jahre nur einige kurze geschäftliche Unterredungen mit ihm gehabt. Während sie sich in Kopenhagen aufhielt, blieb sie die ganze Zeit im Hotel und war für niemanden zu sprechen.

Während die Zeit verging und die Sache sich mehr und mehr zu einem unlösbaren Rätsel verdichtete, fuhr Fenneslew fort, die Affäre zu umkreisen, hartnäckig, erbittert, wie ein Schachspieler, der sich in ein Problem verbissen hat, das er nicht lösen, von dem er aber doch nicht lassen kann. Besonders die Zeitangaben ließen ihm keine Ruhe: Um elf Uhr ging Professor Hektor fort, um zwölf Uhr verließ Dr. Gravenhag seine Wohnung, um vier Uhr verließ er das Café Dybhavn …

Eines Abends spät rief er noch bei Professor Hektor an und fragte:

»Wenn Sie einen Menschen erschießen wollen, Herr Professor, können Sie ihn dann mit einer Revolverkugel so treffen, daß der ganze Schädel gesprengt wird?«

»Ich habe Ihnen ja schon mal gesagt, daß man einen bestimmten Punkt treffen muß. Ich könnte es, weil ich Chirurg bin.«

»Wenn aber Dr. Gravenhag sich das Leben nehmen wollte, hätte er es dann auch gekonnt?«

»Gewiß, Gravenhag war ja auch Chirurg. Aber es ist ausgeschlossen, daß er sich selbst das Leben genommen hat.«

»Ich weiß, daß es ausgeschlossen ist,« antwortete Fenneslew.

»Warum fragen Sie denn?«

»Ich habe aus einem anderen Grunde gefragt,« antwortete Fenneslew.


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