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XVIII.

Inzwischen begann das Interesse des Publikums für diese Sache zu erlahmen. Die allgemeine Meinung war, daß Dr. Gravenhag von einem Dieb erschossen worden sei, der sich in der Wohnung versteckt gehalten und nicht Zeit gefunden hatte, andere Wertgegenstände als Uhr und Geld an sich zu nehmen.

Was die Polizei betrifft, so konnte sie natürlich ein solches unaufgeklärtes Verbrechen nicht ganz beiseite legen. Alle Möglichkeiten, die eine Lösung bringen können, leben weiter in den Köpfen derjenigen, die sich mit der Sache beschäftigt hatten. Bisweilen vergehen Jahre, trifft aber irgendein Ereignis ein, das mit der unaufgeklärten Affäre Zusammenhang haben könnte, dann vergleichen die Polizeibeamten dieses Ereignis mit ihren Erfahrungen, und plötzlich kann durch einen Zufall die ganze Sache aufgerollt und aufgeklärt werden.

Nur Fenneslew hielt halsstarrig an der Sache fest. Es war, als ob seine Seele durch die Affäre gezeichnet worden sei und er sein Leben dafür hingeben mußte, um Klarheit hineinzubringen. Er war ein blonder, kräftiger Mensch, bäuerischen Ursprunges, zäh und ausdauernd, mit einem sicheren Blick. Er glich keineswegs den Detektiven, wie man sie in Filmen zu sehen gewohnt ist, die aus dem Auto steigen und dem wartenden Diener ihren Mantel zuwerfen – er war meistens zu Rad, mit Spangen an den Hosen, ein Bauernjunge, mit klarem, scharfem Verstand.

Professor Hektor wunderte sich über ihn, wurde ihm aber nicht böse, obgleich er eigentlich Grund dazu gehabt hätte, denn Fenneslew widmete ihm ein Interesse, das den Professor davon überzeugte, daß der eifrige Polizeikommissar mit ihm, dem Professor, als Mörder rechnete. Er tut es aus Prinzip, dachte Professor Hektor, er will nicht die geringste Möglichkeit, mag sie auch noch so phantastisch sein, außer acht lassen. Und Fenneslew, der diesen Teil der Untersuchung übrigens ganz allein und diskret betrieb, ruhte nicht eher, als bis er den Beweis erbracht hatte, daß Professor Hektor unmöglich der Mörder seines Kollegen sein konnte. Erstens lag nicht der geringste Grund zu solcher Handlung vor, und zweitens brachte er schließlich das Alibi des Professors ins reine. Einige Freunde des Professors hatten ihn zwischen elf und zwölf Uhr gesprochen, als er gerade von seinem Besuch bei Gravenhag gekommen war. Dann war er nach Hause gegangen. Um zwei Uhr war er wegen eines Krankheitsfalles, der sofortiges Eingreifen verlangte, ins Krankenhaus gerufen worden. Nach der Operation hatte er in seinem Zimmer im Hospital zwischen vier und sieben Uhr geschlafen und war dann geweckt worden. Schließlich wurde Fenneslew auch noch der Autos habhaft, die Professor Hektor zum Krankenhaus gefahren hatten und wieder zurück.

Lange hatte Fenneslew versucht, zwischen Frau Merete Gravenhag und dem Mord eine Verbindung zustande zu bringen, doch mußte er auch diese Möglichkeit fallen lassen. Alle Welt wußte, daß jede intime Verbindung zwischen den beiden Ehegatten aufgehört hatte, sie waren aus gegenseitiger Abneigung auseinander gegangen, und Dr. Gravenhag kümmerte sich ebensowenig um den Lebenswandel seiner Frau, wie sie sich um den seinen. Aber es war bezeichnend für Fenneslews Gründlichkeit, daß er sich nicht zufrieden gab, bevor er einwandfrei festgestellt hatte, daß Frau Merete sich in der Mordnacht in einem kleinen Hotel in Berlin-Charlottenburg aufgehalten hatte. Daß sie dort häufig Besuch von einem intimen dänischen Freund mit Namen Marcus Friis-Brockenberg bekommen hatte, kam ihm auch zu Ohren, gab ihm aber nicht den geringsten Anhalt … In dieser Weise arbeitete er ununterbrochen, energisch und gründlich, wohin er aber auch geriet und was er auch erfuhr, es brachte ihn der Lösung nicht um das Geringste näher. Auch was er an Einzelheiten über den Ermordeten erfuhr, gab ihm keine Aufklärung. Es schien ein Verbrechen ohne Voraussetzungen, ohne Anfang und ohne Ende zu sein. Fenneslew kam schließlich zu dem Schluß, daß der Mord vielleicht nur durch einen Zufall geschehen, daß der Schlag gegen einen ganz anderen gerichtet gewesen war.

Es vergehen zwei Monate, der dritte ist schon vorgeschritten. Der Hochsommer liegt betäubend heiß über Seeland, die Badeorte längs der Küste sind voll von Sommergästen, die ganze wundervolle Strandlinie leuchtet farbig von den Markisen der Hotelfassaden und den bunten Sonnenschirmen der Damen. Die Wohnungen in Kopenhagen sind verschlossen, während die Straßen und die Vergnügungsetablissements von Fremden wimmeln, Durchreisenden, die sich einige Tage in der Stadt amüsieren, bevor sie an die See oder nach Norwegen weiterreisen. Es ist die sogenannte Sauregurkenzeit, niemand scheint zu Hause zu sein, und die Zeitungen sind voll von Nichtigkeiten.

Und an einem solchen Nachmittag sitzt ein Herr in der Redaktion der Zeitung »Politiken« und öffnet ein Telegramm, das ihn in äußerste Bestürzung versetzt. Dies Telegramm betrifft Dr. Gravenhag. Der Inhalt ist so unglaublich, daß er im ersten Augenblick meint, die Zeitung sei Gegenstand einer Mystifikation. An der Unterschrift aber sieht er, daß der Absender einer der zuverlässigsten Korrespondenten der Zeitung ist.


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