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XIX.

Der Empfänger des Telegramms war zufällig der Polizeireporter der Zeitung. Darum setzte er sich sofort mit einem seiner Freunde in der Detektivabteilung in Verbindung, um mit ihm zusammen den Inhalt des Telegramms zu besprechen. Dabei zeigte es sich, daß auch die Polizei eine ähnliche telegraphische Mitteilung aus Berlin bekommen hatte.

Das Telegramm, das an die Zeitung gerichtet war, meldete kurz und bündig, daß in einem Zimmer des Hotels Kaiserhof ein Mord unter höchst seltsamen Umständen stattgefunden habe. Ein vierzigjähriger Mann war ermordet aufgefunden worden. Er war offenbar unter falschem Namen ins Hotel eingekehrt, hatte sich als Dr. Holborn aus Ribe ins Fremdenbuch eingeschrieben. Einige Tage darauf hatte man ihn erschossen im Zimmer gefunden. Aus seinen Papieren ging hervor, daß er Dr. Gravenhag aus Kopenhagen sei.

Dr. Gravenhag, der seit fast drei Monaten tot und begraben war!

Als der Reporter der Zeitung »Politiken« auf die Polizeibehörde kam, erfuhr er nur, daß ein ähnliches Telegramm eingelaufen sei, weitere Details lägen vielleicht vor, doch wäre der Kommissar Fenneslew, der darüber Bescheid wisse, von seinem Weg in die Stadt noch nicht zurückgekehrt.

Bald darauf aber kam er und empfing den Journalisten. Fenneslew war immer sehr freundlich gegen Vertreter von Zeitungen, denn er wußte, daß diese ihm sehr nützlich sein konnten. Er hatte eine anstrengende Radfahrt hinter sich, war staubig und müde und saugte eine halbe Zitrone aus, als der Journalist eintrat.

»Wenn ich einen Zeitmesser gehabt hätte, würde ich heute bei jedem Dauerfahren gewonnen haben,« sagte er, »es ist unglaublich, wie diese Herren Aerzte herumrennen. Aber ich mußte seiner habhaft werden.«

»Von wem sprechen Sie?« fragte der Journalist.

»Von einem Freund Dr. Gravenhags, der ihn näher kennt. Ich mußte ihm von Krankenbesuch zu Krankenbesuch folgen, denn beständig behielt er einen Vorsprung von einer halben Stunde.«

»Es handelte sich um das Telegramm aus Berlin?«

»Die Nachricht aus Berlin, jawohl.«

»Was sagte der Freund, als er es hörte?«

»Dasselbe, was Sie wahrscheinlich sagen werden. Als er hörte, daß man einen Mann tot in einem Hotelzimmer in Berlin gefunden habe, der Dr. Gravenhags Papiere bei sich hatte, sagte er sofort: ›Das ist der Mörder. Die Strafe hat ihn ereilt.‹«

»Das klingt ja sehr wahrscheinlich,« sagte der Journalist. »Dem Verbrecher war es gelungen, mit Gravenhags Geld und Papieren außer Landes zu kommen, und nun ist er einem anderen Verbrecher zum Opfer gefallen.«

»Die Sache ist sehr einfach,« sagte der Detektiv und warf die ausgequetschte Zitrone in den Papierkorb … »So werden vermutlich die Zeitungen die Sache auch darstellen.«

Fenneslew trat der Oeffentlichkeit gegenüber wie ein Mann auf, der resigniert bekannte, daß der Zufall erfolgreicher gewesen sei wie die Polizei, als er auf diese seltsame Weise Klarheit in eine Sache gebracht habe, die die Polizei nicht hatte lösen können.

Indessen war Fenneslews Unterredung mit Dr. Gravenhags Freund, Professor Hektor, nicht ganz so einfach gewesen. Er hatte dem Arzt eine Frage vorgelegt, die diesen aufs höchste in Erstaunen setzte.

Er hatte ihn reinheraus gefragt, ob es möglich wäre, Dr. Gravenhags Leiche auszugraben.

»Nachdem sie zwei und einen halben Monat in der Erde gelegen hat!« sagte Professor Hektor. »Warum denn? Die Aerzte haben sich über den Fall doch bereits definitiv geäußert.«

Damit aber ließ Fenneslew sich nicht abweisen, sondern er wollte ein sachkundiges Urteil darüber haben, ob man bei einer Ausgrabung die Leiche in einigermaßen unbeschädigtem Zustand vorfinden würde. Professor Hektor sprach sich bereitwillig darüber aus.

»Ich gebe zu,« sagte er, »daß der Mord sehr mystisch war, und ich habe schon lange bemerkt, daß Sie sich mit irgendeiner Vermutung tragen. Welcher Art ist diese?«

»Darauf kann ich Ihnen nur mit einer Gegenfrage antworten,« sagte Fenneslew, »wissen Sie, womit Dr. Gravenhag sich in der letzten Zeit vor seinem Tode beschäftigte?«

»Soweit ich weiß, beschäftigte er sich mit nichts.«

»Und in der Zeit vor seinem unglückseligen Herumtreiben?«

»Dr. Gravenhag war immer sehr geheimnisvoll,« antwortete Professor Hektor ausweichend, »er experimentierte viel und zwar auf Gebieten, wo wir anderen ihm nur schwer zu folgen vermochten.«

»Kann man sagen, daß er sich bei seinen Experimenten auf Gebiete begab, die man das Mystische, Uebernatürliche nennt?«

»Eine Zeitlang interessierte er sich sehr für Hypnotismus,« sagte Professor Hektor nachdenklich.

Diese Antwort aber befriedigte Fenneslew nicht.

»Hypnotische Versuche gehören zu geistigen Experimenten,« sagte er, »und Dr. Gravenhag war doch Chirurg.«

Hektor sah ihn verblüfft an.

»Meinen Sie, daß die Chirurgie irgendeinen Zusammenhang mit übernatürlichen Phänomen haben könnte?«

»Unmöglich ist es nicht.«

»Das sind zwei Begriffe, die sich unmöglich vereinigen lassen,« antwortete der Professor, »tritt die eine Vorstellung auf, muß die andere weichen. Das ist, kurz gesagt, eine Unmöglichkeit.«

»Es gibt viele Dinge, die unmöglich erscheinen,« sagte Fenneslew, »zum Beispiel …«

»Zum Beispiel?« fragte der Professor.

»Zum Beispiel, daß ein und derselbe Mensch zweimal stirbt,« vollendete Fenneslew. »Denn mir scheint, daß derselbe Dr. Gravenhag, der vor zwei und einem halben Monat ums Leben kam, von neuem in Berlin ermordet wurde.«


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