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I.

Wenn ich Robert Robertsons Bericht veröffentliche, wird der Leser nicht glauben wollen, daß es einen solchen Menschen tatsächlich gibt. Ich selbst war anfänglich im Zweifel und meinte, daß ich einer Mystifikation ausgesetzt worden sei. Darum beschäftigte ich mich längere Zeit nicht ernstlich mit dieser Sache, doch ließ sie mir keine Ruhe, beständig drängte sie sich mir in seltsam aufreizender Weise auf. Halbwegs gegen meinen Willen fühlte ich mich gezwungen, einzelne Punkte in Robertsons Erzählung mit Tatsachen aus der bekannten Dybhavn-Tragödie zu vergleichen, die seinerzeit den ganzen Norden wegen ihrer undurchdringlichen Mystik in Aufregung versetzte, und die man schließlich zu den unaufgeklärten Fällen legen mußte.

Folgende Schilderung des Phänomens Robert Robertson wird den Leser bald von der Notwendigkeit, ihn ernst zu nehmen, überzeugen. Und diejenigen, die nicht glauben wollen, daß ein Individuum wie Robertson in einem geordneten Staat leben kann, möchte ich an die Beispiele von Unmenschlichkeit erinnern, die gerade die neuere Zeit in so reichem Maße aufzuweisen hat. Alles, was Zivilisation heißt, hat sich ja als eine dünne Schale erwiesen, die überall platzt, und in dem allgemeinen Chaos sind bald hier bald dort Individuen aufgetaucht, mit Trieben und Instinkten, die, wie wir annahmen, seit Jahrhunderten längst unterdrückt waren.

Robertson ist kein Verbrecher im gewöhnlichen Sinne, oder richtiger gesagt, seine Spezialität sind eine Art Verbrechen, die man mit einem anderen Namen bezeichnen muß, weil es bisher in der Kriminalität solches Phänomen nicht gegeben hat. Seine Persönlichkeit wirkt schreckerregend und unheimlich, abstoßend wie etwas Böses und Kaltes. Dennoch muß man zugeben, wenn man sich näher mit ihm beschäftigt hat, daß er über einzigartige und teilweise unbekannte Kräfte und Eigenschaften verfügt.

Als die Ereignisse, von denen hier die Rede sein soll, sich abspielten, mag er an die dreißig Jahre gewesen sein. Er ist in Norwegen geboren, sein Vater war Norweger, seine Mutter aber Engländerin. Frühzeitige Reisen im Ausland haben ihm ein internationales Gepräge verliehen. Er wirkt keineswegs auffallend, es ist sogar ein Teil seiner Begabung, daß er sich in jeder Gesellschaftsklasse heimisch fühlen kann. Nirgends ist man seiner sicher; in einem deutschen Offizierskasino, zwischen dem Pöbel auf einem Kai von Neapel, in einer Luxuskabine auf einem Ozeandampfer oder in einem bürgerlichen Kreis in Skandinavien kann man ihm begegnen. Ueberall paßt er sich seiner Umgebung spielend an.

Zu Anfang dieser Erzählung, vor drei, vier Jahren, finden wir ihn in Kopenhagen in einer Pension. Ich komme noch später auf die Form zurück, in der er mir seine Mitteilungen machte. Vorläufig will ich berichten, wie er seine Umgebung beobachtete und welches Gewicht er selbst auf dieses Studium legte.

*

Ich hatte noch keine acht Tage in der Pension gelebt, so erzählte er, als ich bereits sämtliche Bewohner in- und auswendig kannte. Eigentlich behagte es mir in dem Kreis recht gut, er war von der Art, in der ich nach Ausflügen in andersartigen Gegenden der Welt auszuruhen liebe. Die Gesellschaft besaß jene Mischung von Solidität und Ungezwungenheit, die beruhigend wirkt. Man traf dort auf Leute von heruntergekommenem Adel, auf Theaterleute, etwas Kunst, etwas Skandal, zweifelhafte Existenzen, und schließlich auf gute Bürgersleute, ja, sogar ein leiser Duft aus der Welt der Diplomatie fehlte nicht.

Ich versichere auf Ehrenwort, daß ich keine bestimmte Absicht mit meinem Einzug dort verband. Ich wollte nur zurückgezogen leben und mich ausruhen. Vor allen Dingen dachte ich nicht an berufsmäßige Geschäfte, hätte ich Geld verdienen wollen, würde ich ein ganz anderes Milieu gewählt haben. Geld hatte ich genug, jedenfalls so viel, daß ich ohne Sorgen leben konnte. Nach einer harten, arbeitsamen Periode wollte ich ganz ohne Beschäftigung sein, um meine Nerven zu beruhigen. Der Zufall aber wollte, daß mein Vorsatz nicht ausgeführt wurde.

Am 20. April zog ich in die Pension ein, und bereits Ende Juli war die Tragödie beendet, die zwei Menschen das Leben kostete. Während der ersten Tage ereignete sich nichts, was das schlafende Raubtier wecken konnte. Ich sage mit Absicht: Raubtier, denn wenn ich mich in einem Stadium der vollen Entwicklung meines Wesens befinde, fühle ich mich in der unerhörten Spannung, mehr meinem geheimnisvollen Tier als einem Menschen verwandt. In solchen Perioden leide ich an einer unerklärlichen und peinlichen Feindlichkeit gegen die Menschen im allgemeinen.

Wie genau erinnere ich mich noch des vorzüglichen und gemütlichen Mittagstisches der Pension in den milden Frühlingstagen! Die Gäste kamen nach und nach herein und sprachen entzückt über die frühzeitige Wärme, die den Apriltagen eine Junistimmung verlieh. Unwillkürlich stimmte die ungewöhnliche Milde des Wetters die Menschen liebevoll gegeneinander. Am Ende des Tisches saß die Wirtin. Von dieser Dame werde ich stets mit Hochachtung sprechen, so vorzüglich wie sie ihre Pension führte, überlegen, diskret, aber mit Verständnis und Wohlwollen. An ihrer Seite saß Fräulein Trappmeyer, eine etwas bejahrte Dame. Sie war Pianistin, hatte aber nie recht Erfolg gehabt; sie war verbittert und eifersüchtig und schrieb darum Musikkritiken in den Zeitungen. Neben ihr saß ein englischer Diplomat, der beständig darüber klagte, daß er um seinen Nachtschlaf kam (er wohnte neben einem norwegischen Schriftsteller). Dieser saß bei Tisch auch neben ihm und sprach selten ein Wort, er war nämlich taub und konnte der Unterhaltung nicht folgen. Nachts aber sprach er laut – Taube können ihre eigene Stimme ja nicht hören, wohl aber die Nachbarn. Neben ihm saß ein Geistlicher von der russisch-katholischen Kirche der Stadt, dann kam eine schöne, kürzlich geschiedene Frau aus der besten Gesellschaft, die in meiner Erzählung noch eine tragische Rolle spielen wird. Vor allen Dingen aber will ich die Hauptperson meiner Geschichte erwähnen, die an ihrer linken Seite saß: ein ganz gewöhnlicher Postsekretär, der aber den hochadligen Namen Marcus Friis-Brockenberg trug.


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