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IX.

Während des letzten Monates hatte Dr. Gravenhag keine Haushälterin gehabt. Seit er alle seine Mahlzeiten im Restaurant einnahm, hatte er seine Dienstboten verabschiedet und nur eine alte Reinmachefrau behalten, die morgens kam und abends wieder fortging. Zu ihrer Verwunderung hatte die Alte feststellen müssen, daß Dr. Gravenhag sein Haus gar nicht mehr betrat. Wenn sie morgens kam, waren die Zimmer ebenso unberührt, wie sie sie am Abend verlassen hatte; doch hatte sie nicht viel Wesens daraus gemacht, weil Dr. Gravenhag ihr einst gesagt hatte, daß sie sich nicht beunruhigen solle, wenn er plötzlich einige Tage ausbliebe. Als sie aber am neunten Tage in die Wohnung kam, sah sie, daß Gravenhag dagewesen war. Auf dem Tisch im Eßzimmer stand eine Flasche Whisky und zwei Gläser, wovon das eine ausgetrunken und das andere halb geleert war. Die Tür zum Schlafzimmer war verschlossen, sie lauschte, als sie aber keinen Laut hörte, nahm sie an, daß Dr. Gravenhag noch schliefe, und sie ging an ihre Hausarbeit, wusch die Gläser und stellte sie an ihren Platz. Das war natürlich für die spätere Untersuchung ein fataler Umstand, der sich aber nicht ändern ließ.

Um zwölf Uhr klopfte sie an die Schlafzimmertür, und als sie keine Antwort bekam, dachte sie, daß Dr. Gravenhag nicht mehr drinnen sei und ging hinein. Dicke Portieren waren vor den Fenstern, und in den elektrischen Lampen brannte noch das Licht. In seinem Stuhl vor dem Schreibtisch saß Dr. Gravenhag zurückgelehnt, mit schlaff herabhängenden Armen, eine furchtbare Wunde bedeckte die eine Seite des Gesichtes, das unkenntlich war, der Schädel war ganz zusammengefallen. Die Alte erschrak so heftig, daß sie nicht näher zu gehen wagte. Schreiend lief sie hinaus und rief den Hauswart zu Hilfe. Als dieser kam, sah er gleich, daß Dr. Gravenhag tot war, wahrscheinlich schon seit mehreren Stunden. Er ließ ihn unberührt in der Stellung, wie er ihn gefunden, und telephonierte an die Polizei. Er nahm an, daß Selbstmord vorläge, was er auch der Polizei mitteilte.

Auf dem Polizeiamt war gerade ein sehr tüchtiger Beamter, Fenneslew, zugegen, und da er wußte, daß einer der Polizeiärzte, Dr. Hermansen, ein Freund des Verstorbenen war, nahm er ihn gleich mit sich. Als sie den Toten erblickten, erkannten sie beide sofort, daß es sich hier um einen Fall handelte, der das sofortige Eingreifen der Polizei erforderte.

Für Dr. Hermansen, der den Toten so gut gekannt hatte, mußte es ein schrecklicher Anblick gewesen sein, wie er dort auf dem Stuhl saß. Noch brannten die elektrischen Lampen, aber die blendenden Strahlen der Junisonne drangen durch die Ritzen der Gardinen und vermischten sich auf seltsam geheimnisvolle Weise mit dem gelben Lampenschein. Und in dieser unwirklichen Beleuchtung saß der Tote zurückgelehnt im Stuhl, die Kehle wie eine Saite gespannt, der Kopf hing über die Rückenlehne des Ledersessels. Die eine Hälfte des Gesichtes war von einem Projektil zerschmettert. Die Schulter und der Boden waren von Blut beschmutzt. Die Arme hingen schlaff herab, aber beide Hände waren geballt. Auf dem Teppich neben ihm lag ein Revolver von grobem Kaliber. Auf dem Schreibtisch vor ihm lag ein angefangener Brief. Fenneslew stand einige Minuten unbeweglich und prägte sich das unheimliche Bild ein, nicht nur die Lage des Toten, sondern auch die ganze Einrichtung des Zimmers, den Bücherschrank im halbdunklen Hintergrunde, das Muster des Teppichs, die schweren englischen Klubsessel und die vielen Kleinigkeiten auf dem Schreibtisch. Die erste Untersuchung überließ er dem Polizeiarzt, von dem er wußte, daß er dergleichen Untersuchungen mit der größten Genauigkeit vornahm – ein Polizeiarzt rechnet in solchem Fall immer mit der Möglichkeit eines Verbrechens.

Inzwischen rief Fenneslew die alte Frau herein, die sich inzwischen gefaßt hatte und eine einigermaßen zusammenhängende Erklärung abgeben konnte. Als sie von den beiden Whiskygläsern erzählte, fragte er nur:

»Wann verließen Sie gestern abend das Haus?«

»Um acht Uhr,« antwortete sie.

Darauf nahm er den angefangenen Brief vom Schreibtisch und las das Geschriebene langsam durch. Worauf er den Arzt ansah, der auf seinen Knien lag und das Gesicht des Toten untersuchte.

»Kennen Sie einen intimen Freund des Toten, der Hagbarth mit Vornamen heißt?« fragte er.

Der Arzt antwortete nicht, so vertieft war er in die Untersuchung. Der Polizeikommissar mußte seine Frage wiederholen. Da sah der Arzt mit einem seltsam abwesenden Blick auf.

»Das wird Professor Hagbarth Hektor vom Städtischen Krankenhaus sein,« antwortete er.

Fenneslew las wieder in dem angefangenen Brief und legte ihn darauf an seinen Platz.

Gleich darauf bemerkte er:

»Sie äußerten vorhin im Auto, lieber Dr. Hermansen, daß Sie dies erwartet hätten.«

Dr. Hermansen erhob sich und sagte still:

»Nach seinem Lebenswandel in der letzten Zeit fürchtete ich das Schlimmste.«

Fenneslew zeigte auf den Toten.

»Hatten Sie dies erwartet?« fragte er.

»Meinen Sie wirklich, daß hier ein Verbrechen vorliegt?« sagte der Arzt.

Der Polizeikommissar nickte.

»Ich glaube es auch,« antwortete der Arzt, »und ich will Ihnen sagen, was ich in seinem Gesicht gelesen habe.«


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