Louis Weinert-Wilton
Die chinesische Nelke
Louis Weinert-Wilton

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56

»Um die Mittagsstunde erwarte ich Oberst Wilkins«, sagte Lady Falconer zu dem Butler. »Sonst empfange ich niemanden, und bis dahin will ich auch nicht gestört werden.«

»Sehr wohl, Mylady«, erwiderte der Butler und verschwand in großer Eile, denn Mylady war nach den vertraulichen Mitteilungen ihrer Zofe heute noch reizbarer als sonst.

Trotzdem sah sich der Mann bereits eine halbe Stunde später veranlaßt, dem erhaltenen Auftrage zuwiderzuhandeln, denn diesen Besucher abzuweisen, wollte er auf keinen Fall auf seine Verantwortung nehmen.

Der Empfang, den er fand, rechtfertigte seine schlimmen Befürchtungen. Lady Helen schnellte bei seinem Eintritt mit wutverzerrtem Gesicht auf, warf den Stoß von Zeitungen, mit dem sie sich seit Stunden beschäftigte, zu Boden.

»Was habe ich Ihnen befohlen?« kreischte sie.

Der Butler bewahrte seine steife Würde und verlor kein Wort der Entschuldigung. Nur den Blick, den er auf das Tablett mit der Besuchskarte gerichtet hielt, ließ er sprechen.

Lady Falconer riß die Karte an sich, aber kaum hatte sie sie mit den Augen gestreift, als sie ihre Beherrschung wiederfand.

»Das ist natürlich etwas anderes. Selbstverständlich empfange ich. Warum haben Sie nicht gleich den Namen genannt?«

Der geschulte Diener sammelte rasch die Blätter vom Boden auf, und wenige Minuten später trat Sir Frederick Legett über die Schwelle. Er trug noch immer den Arm in der Binde, aber das tat seiner Geschmeidigkeit keinen Abbruch.

Lady Falconer gab ihrer freudigen Überraschung sehr lebhaften Ausdruck. »Endlich, Sir Frederick!« rief sie ihm mit leisem Vorwurf entgegen. »Nachdem ich Sie so oft eingeladen hatte, wagte ich wirklich schon nicht mehr zu hoffen. Dabei ließ ich Sie doch sehr deutlich merken, daß ich eine besondere Sympathie für Sie hege.«

Der schmächtige Mann mit der gepflegten riesigen Glatze nickte und lächelte. »Ich weiß, Lady Falconer. Aber nennen wir es vielleicht besser Interesse für das ›kleine Große Fragezeichen‹.«

»Ja«, bekannte sie freimütig und lachte etwas zu laut. »Sie sind mir doch hoffentlich wegen dieses Scherzes nicht böse?«

»Durchaus nicht«, versicherte Sir Frederick. »Ich habe mich sogar darüber gefreut; wirklich außerordentlich gefreut.«

»Das ist nett.« Lady Falconer sprühte plötzlich vor guter Laune. »Schließlich darf ja eine Frau ein bißchen neugierig sein, nicht wahr? Es hat mir einfach keine Ruhe gegeben, daß ich nicht etwas mehr über den geheimnisvollen Sir Frederick erfahren konnte. Außer einigen belanglosen Kleinigkeiten«, fügte sie schalkhaft hinzu.

»Oh . . .«, murmelte Legett und hob zum ersten Mal den Blick. Seine farblosen Augen waren von einer beklemmenden Kälte und Ausdruckslosigkeit.

Lady Helen drohte ihm mit dem Finger. »Jawohl. Unter anderem habe ich mir sagen lassen, daß Sie bloß für jene Damen etwas übrig haben, die Ihnen aus den Karten zulächeln. Das ist für uns Frauen von Fleisch und Blut recht kränkend.«

»Nur ein kleiner Zeitvertreib«, gestand Sir Frederick kühl. »Ich wußte wirklich nicht, daß man davon spricht. Ein Mann in meinen Jahren ohne Familie verfällt leider sehr leicht Zerstreuungen.«

»Sie müssen mir mehr von sich erzählen«, drängte Lady Falconer und bekam vor Eifer rote Flecken auf den Wangen. »Der Anfang ist ja nun gemacht, und da wir so hübsch unter uns sind, ist dies die beste Gelegenheit. Sie sehen, wie schrecklich neugierig ich bin.«

Wieder schlug Sir Frederick für eine Sekunde die Lider auf. »Ich hoffe, daß ich Sie nicht enttäuschen werde«, sagte er, und in dieser harmlosen Bemerkung klang etwas mit, was der beherrschten Frau einen leichter Schauer durch die Glieder jagte. Sie mußte einige Male ansetzen, bevor sie ihrer Stimme Herr wurde.

»Da werden wir also zunächst ein Stündchen gemütlich plaudern, und dann bleiben Sie auch noch zum Lunch. Wir werden nicht allein sein, Oberst Wilkins speist mit uns.«

»Bitte«, erklärte Legett höflich. »Wenn Oberst Wilkins wirklich kommt . . .«

»Ja, er kommt«, fiel Lady Falconer fast ungeduldig ein, und die Flecke auf ihren Wangen zeichneten sich noch etwas schärfer ab. »Er war gestern bei mir, und ich habe ihn eingeladen. Als ob ich geahnt hätte, wie gut sich das treffen würde.«

Sie ließ wiederum ein etwas zu lautes Lachen hören, brach aber ab, weil der Blick, dem sie begegnete, ihr den Atem benahm.

Sir Frederick sah jedoch bereits wieder auf seine hageren, schmalen Hände und schüttelte nur den spitzen kahlen Kopf.

»Oberst Wilkins wird leider nicht kommen«, sagte er kaum hörbar. »Ich – hm – ich dachte, Sie wüßten bereits davon . . .«

Lady Helen fuhr mit einem erstickten Laut auf. Ihr Gesicht war welk, grau und alt, und ihre Augen flackerten irr und gehetzt. »Was . . .«, stammelte sie endlich mühsam, »um Gottes willen . . ., ich weiß gar nichts – was ist geschehen?«

»Wilkins ist in der vergangenen Nacht verunglückt«, erklärte Legett mit kalter Sachlichkeit. »Ein schwerer Autounfall. Aber so bedauerlich das tragische Geschick ist, bedeutete es in diesem Fall wohl eine glückliche Lösung . . .«

Sir Frederick machte eine Pause, Lady Falconer aber lag verstört und verfallen in dem tiefen Sessel am Kamin. Erst die unheimliche Stille ließ sie jäh aufschrecken.

»Das alles kann ich nicht verstehen . . .«, flüsterte sie.

»Ja, es ist unfaßbar«, gab Legett mit einem ernsten Nicken zu und wurde mit einem Mal überraschend mitteilsam. »Wilkins hat sich nämlich nicht nur in seiner Stellung des schimpflichsten Vertrauensbruchs schuldig gemacht, sondern hat auch noch andere, fast möchte ich sagen weit schrecklichere Dinge begangen. Die einzige Erklärung dafür ist, daß er wohl schon seit längerer Zeit nicht mehr ganz zurechnungsfähig war. Es geht das auch daraus hervor, daß er für seine zweite Existenz eine recht auffallende Maske gewählt hatte. Leute, die ihn so gesehen haben, behaupten, daß er darin« – Sir Frederick zögerte – »eine gewisse Ähnlichkeit mit mir gehabt habe. Ein sehr komischer Geschmack. Aber Wilkins trieb diesen absonderlichen Einfall sogar so weit, daß er es für notwendig hielt, mich mit einer gleichen Verwundung herumlaufen zu lassen, als er vor zwei Tagen einen Schuß in den linken Arm davontrug. Das ist offenkundiger Irrsinn. Und auch die außerordentliche Kaltblütigkeit und Verschlagenheit, die er bei allen seinen Verbrechen entwickelte, sprechen für einen krankhaften Geisteszustand. So hat er beispielsweise nach der Ermordung Fosters, die zweifellos auch ihm zur Last fällt, noch durch dessen Telefon den Hauswart angerufen und erst nach diesem Gespräch die Verbindung unterbrochen. Dann hat er den Hausschlüssel Fosters an sich genommen und den Augenblick, da der Pförtner in das vierte Stockwerk fuhr, benützt, um zu flüchten. Als er dann als Oberst Wilkins wieder erschien, war es ihm ein leichtes, den Schlüssel unbemerkt wieder an den früheren Platz zu hängen. Er war jedenfalls bereits in Fosters Wohnung, als Miss Hogarth kam, und hat in einem Nebenzimmer die Unterredung belauscht. Und als diese nicht so verlief, wie es seinen Zwecken entsprochen hätte, hat er Foster aus dem Weg geräumt. Er hatte diesen nämlich in sein verbrecherisches Treiben verwickelt und befürchtete nun, daß dessen Mißerfolg zu einer Entdeckung führen könnte. Außerdem fügte es sich ja so günstig, daß ein anderer in den Verdacht der Täterschaft geraten mußte. Foster war wie Wilkins ein leidenschaftlicher Spieler«, schloß Sir Frederick mit einem maskenhaften Lächeln, »und das sollte eigentlich für mich eine Warnung sein.«

»Entsetzlich . . .«, murmelte Lady Falconer und aus ihren Augen schrie eine angstvolle Frage. Aber Legett verstand sie nicht.

»Ich kann mir denken, wie schwer diese Dinge Sie treffen«, sagte er mit höflicher Teilnahme, »denn Wilkins zählte ja zu Ihrem Freundeskreis. Deshalb glaubte ich auch, Ihnen einige Einzelheiten über sein Schicksal anvertrauen zu dürfen, obwohl ich damit eigentlich eine arge Indiskretion begehe. Das ›Haus im Schatten‹ pflegt sonst über derartige Angelegenheiten tiefstes Stillschweigen zu bewahren . . .«

Aus dem Lehnstuhl beim Kamin kam ein unartikulierter Laut, der wie Röcheln klang, aber Lady Helen versuchte nur, die Stimme für eine Frage frei zu bekommen.

»Oh – Sie haben mit dem Intelligence Service zu tun?« flüsterte sie heiser. »Ich dachte, MacDowell . . .«

Sir Frederick lächelte. »MacDowell steht nominell an der Spitze, ich aber leite die Stelle«, erklärte er bescheiden. »Es wissen nur sehr wenige Eingeweihte um diese zweckdienliche Zweiteilung, Lady Falconer. Aber da Ihnen meine Wenigkeit solches Kopfzerbrechen verursachte, möchte ich Ihnen dieses kleine Geheimnis nicht vorenthalten. Sie sollen sogar etwas mehr über die peinliche Affäre wissen. Ich glaube, es ist uns gelungen, sie ziemlich restlos aufzuklären, und Wilkins ist uns dabei sehr behilflich gewesen, indem er einige Unvorsichtigkeiten beging. Vor allem hat er bei dem Weihnachtsdinner, dem Sie ja auch beiwohnten, für gewisse Vorgänge ein auffallendes Interesse bekundet, und dann hat er sogar auf den Kahlkopf selbst aufmerksam gemacht. Es geschah dies vermutlich, weil er sich durch einen sehr fein ausgeklügelten Plan von der Abhängigkeit von seinem Auftraggeber befreien wollte: wenn er diesen in seiner eigenen Maske unschädlich machte, hatte er sich nicht nur des einzigen Mitwissers um seine Verfehlungen entledigt, sondern auch den Mann aus der Welt geschafft, der für die verschiedenen Verbrechen des Kahlkopfes verantwortlich war. Zu dieser gründlichen Lösung dürfte Wilkins nicht bloß die ständig wachsende Gefahr einer Entdeckung, sondern auch der Umstand gedrängt haben, daß er in der letzten Zeit eine Möglichkeit zu sehen glaubte, aus seinen völlig zerrütteten Verhältnissen auf andere Weise herauszukommen. Seine Berechnungen sind aber daran gescheitert, daß er sich über seinen Auftraggeber nicht im klaren war, während dieser wohl wußte, mit wem er es zu tun hatte. Und in dieser Unkenntnis hat Wilkins dann abermals eine kleine Unvorsichtigkeit begangen. Denn als er heute nacht zum entscheidenden Schlag ausholen wollte, kam ihm der andere zuvor . . .«

Lady Falconer richtete sich langsam halb auf, und in ihren Mienen lag eine verzweifelte Entschlossenheit.

»Wie interessant«, sagte sie, und es klang ein wenig spöttisch. »Ein richtiger Kriminalfilm . . .«

»Ja«, stimmte Legett bei, »und dabei ist dieser Kriminalfilm noch nicht zu Ende. Wir haben uns nämlich auch ein wenig um Wilkins Verbündeten gekümmert und sind zu der überraschenden Feststellung gelangt, daß dieser – eine Frau war . . .«

Legett räusperte sich, Lady Falconer aber fiel wieder in sich zusammen, als hätte sie ein wuchtiger Schlag getroffen.

Nun war also das Ende wirklich da, und es gab für sie keine Hoffnung mehr. Sie hatte ja ein Unheil geahnt, als der geheimnisvolle Mann in dieser kritischen Stunde plötzlich den Weg zu ihr gefunden hatte, und mit jedem seiner Worte war es näher und drohender herangekrochen. Aber bis zu diesem Augenblick hatte sie sich doch noch an eine Hoffnung geklammert: es konnte ja sein, daß das ›Haus im Schatten‹ von ihr bloß etwas mehr über Wilkins erfahren wollte – oder daß man dort zwar einiges vermutete, aber nichts Bestimmtes wußte und nun lediglich vorfühlen wollte . . .

Aber die letzten Worte hatten ihr verraten, daß es für den Mann mit dem unheimlichen Blick kein Geheimnis mehr gab und daß er mit ihr nur wie die Katze mit der Maus spielte. Und daß er vielleicht schon in der nächsten Minute zufassen würde . . .

Sir Frederick wurde jedoch gar nicht unangenehm, sondern spann leise und eintönig seine Geschichte weiter.

»Die Frau ist in England geboren«, erklärte er, »aber als Kind mit ihrer Familie nach den Staaten gegangen. Dort hat sie sich bereits sehr früh als Brettlsängerin betätigt und wurde von einem reichen Chinesen entdeckt, der sie mit nach Hongkong nahm. Er richtete ihr ein Teehaus ein, und Miss Mitchell entwickelte eine derartige Geschäftstüchtigkeit, daß ihr Lokal, dem sie den poetischen Namen »Zur chinesischen Nelke« gegeben hatte, bald zu den beliebtesten Vergnügungsstätten zählte. Nach drei Jahren machten aber einige üble Spielaffären diesem blühenden Unternehmen ein Ende, und Miss Mitchell wandte sich einer anderen Beschäftigung zu, die ihrem regen Ehrgeiz mehr entsprach. Sie verfügte nun über beträchtliche Geldmittel, die ihr ein entsprechendes Auftreten ermöglichten, sie hatte sich verschiedene einflußreiche Beziehungen geschaffen, und auch ihre Intelligenz und ihre Sprachkenntnisse kamen ihr sehr zustatten. Sie wurde also in Anbetracht der äußerst günstigen Konjunktur im Fernen Osten politische Agentin und soll als solche recht gute Dienste geleistet haben. Dann ging sie plötzlich nach Europa, tauchte als reiche, müßige Weltbummlerin in verschiedenen Hauptstädten auf und ließ sich endlich zu einem bestimmten Zweck in London nieder. Erst nachdem sie sich hier durch Erwerbung eines klangvollen Namens eine besondere gesellschaftliche Stellung und durch den Kauf eines einträglichen Spielklubs einen etwas abenteuerlichen Apparat geschaffen hatte, ging sie an ihre Arbeit, und Wilkins und Foster waren die ersten, die sie hierfür gewann. Bedauerlicherweise entwickelte sie bei ihren verschiedenen Unternehmungen ziemlich gewalttätige Methoden, und das Sündenregister des Herrn mit dem buschigen Schnurrbart, als der sie auftrat, ist recht arg. Denn wir haben bei uns einen Mann, der von gewissen Papieren und von einem Dolchstich in die Hand erzählen kann, wir haben einen sehr deutlichen blutigen Fingerabdruck auf einer Banknote, die sich im Besitz eines politischen Abenteurers namens Simonow fand, und wir haben Fingerabdrücke auf Zigarettenschachteln, die die Frau in der Hand hatte. Und wie für die Identität haben wir auch für alle Dinge, die geschehen sind, lückenlose Beweise. Auch für den gestrigen Mord an dem Rechtsanwalt Gardner. Wir wissen genau, warum, wie und durch wen er geschehen ist . . .«

Sir Frederick Legett brach unvermittelt ab und erhob sich.

»Ich habe Sie sehr lange aufgehalten«, sagte er mit großer Förmlichkeit, »aber es war leider notwendig. Wir wollen nämlich die Sache ohne allzuviel Aufsehen aus der Welt schaffen.«

Lady Falconer schnellte auf, und noch einmal malte sich in ihren verzerrten Mienen eine wahnwitzige Hoffnung.

Der Mann, der aufgehört hatte, für sie ein Fragezeichen zu sein, stand bereits an der Tür.

»Wir geben der Frau eine Stunde Zeit«, klang es von dorther. »Es wäre zwecklos, noch etwas zu unternehmen, denn wir haben uns im Klub der Globetrotter bereits umgesehen, und der rote Kontakt ist unterbrochen. Er hätte auch nichts mehr an den Dingen ändern können. Es bleibt nur ein einziger Ausweg, und wenn die Frau klug ist, wird sie ihn wählen.«

 

Lady Falconer war eine kluge Frau und nahm nicht einmal die Stunde, die man ihr eingeräumt hatte, voll in Anspruch.


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