Louis Weinert-Wilton
Die chinesische Nelke
Louis Weinert-Wilton

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Die Matrosenschenke ›Zum durstigen Stockfisch‹, die der geschäftstüchtige Tim Blake sehr gegen den Willen seiner gesetzteren Stammgäste vor zwei Jahren zu einer Tanzdiele mit dem vielverheißenden Schild ›Zu den lustigen Weibern‹ aufgetakelt hatte, lag draußen in Limehouse beim Regents-Canal Dock. Man hatte das lange ebenerdige Gebäude in den betriebsamen Kriegszeiten binnen achtundvierzig Stunden aufgebaut, weil Not an Warenspeichern war, und das einzige Solide daran waren die dicken Eisenstäbe vor den Fenstern. Tim fand diese Gardinen so anheimelnd, daß er rasch entschlossen einen vorteilhaften Handel schloß. Dann legte er einen Stapel Bretter, den man später bei einem Neubau in der Umgebung vermißte, auf den schlampig gestampften Fußboden und ein weiteres Brett über zwei leere Fässer, und der ›Durstige Stockfisch‹ trat mit einem Mobiliar von größeren und kleineren Kisten ins Leben.

Heute gab es bei den ›Lustigen Weibern‹ richtige Tische und fest verankerte Bänke und Stühle, und der gewissenhafte Tim schlitterte persönlich jeden Nachmittag über das Tanzparkett, um es von allen vorstehenden Spänen und Nägeln zu säubern. Gäste gab es den ganzen Tag, aber der große Betrieb begann erst am Abend so nach neun. Dann schaltete Tim Blake draußen die feenhafte Beleuchtung ein, die er von einer verkrachten Schießbude erworben hatte, legte eine schmissige Schlagerplatte auf und ließ gleichzeitig den Rundfunk durch den mächtig scheppernden Lautsprecher los. Es war eine lockende Sirenenmusik, die den Vergnügungssüchtigen auf eine halbe Meile den Weg wies, und in dem Gewirr von Lagerhäusern, Werkstätten und Wohnbaracken war eine solche Orientierung auch unbedingt vonnöten.

Peter Owen allerdings bedurfte ihrer nicht, sondern stapfte den stockdunklen Zickzackkurs durch zähen Dreck und über halsbrecherisches Geröll mit unfehlbarer Sicherheit, und Ramsay hielt sich dicht hinter ihm. Als sie zum soundsovielten Mal um eine scharfe Ecke geschwenkt waren, strömte ihnen endlich ein fahler Schimmer entgegen, und nach einigen weiteren Schritten hatten sie auch schon die bunten Fassadenlichter des ›Durstigen Stockfisch‹ vor sich. Das Gebäude lag auf einem kleinen freien Platz, auf den von allen Seiten enge Zugänge mündeten.

Auf diesen etwas unbequemen und unheimlichen Wegen kamen die Gäste Tim Blakes allabendlich angeströmt, und auch jetzt sah man von hier und dort noch eilige Gestalten zu dem Haupteingang huschen, obwohl das Vergnügen bei den ›Lustigen Weibern‹ schon seit einer guten Stunde in vollem Schwunge war.

Ein Mann konnte aber anscheinend nicht recht schlüssig werden, ob er den Sprung in den Strudel wagen sollte. Er drückte sich am Ende des Gäßchens, durch das Peter und Ramsay kamen, im Dunkel herum und nahm zwar einige Male einen Anlauf gegen das Lokal, kehrte aber immer wieder nach wenigen Schritten in den schützenden Schatten zurück. Dabei behielt er unablässig den Eingang im Auge und war von seinen Beobachtungen so in Anspruch genommen, daß er die nahenden Männer in seinem Rücken erst bemerkte, als es kein Ausweichen mehr gab.

Der Überraschte schnellte in wildem Schreck herum, und gleichzeitig fuhr seine Hand in die Tasche und zur Hälfte wieder heraus . . .

Dann griffen Peter Owens knochige Finger zu.

Der geschmeidige Bursche zischte einen halblauten Fluch zwischen den Zähnen hervor, dann kam ein weher Schmerzenslaut, und etwas Metallenes klirrte auf den grobgeschotterten Boden.

Peter hatte bereits den Fuß darauf. »Mein Junge«, sagte er ernst, und sein Priem sprühte, »für diese Gemeinheit sollte ich dir links und rechts eine in die Fratze kleben, daß dir die Backen innen zusammenwachsen. Aber dann könnte sich vielleicht wieder die Polizei einmischen, und damit will ich nichts zu tun haben. Ich werde mir daher nur deine Galgenvisage etwas genauer anschauen, damit man weiß, wem man den Strick um den Hals legen soll, wenn nächstens hier herum wieder etwas passiert.«

Damit faßte er den verängstigten Mann mit einem festen Griff am Unterkiefer und schwenkte das blasse Gesicht kurz nach allen Seiten, als ob er sich wirklich jede Linie für immerwährende Zeiten einprägen wollte.

»Lassen Sie mich los«, bettelte sein Opfer. »Ich wollte Ihnen wahrhaftig nichts tun. Aber da man hinter mir her ist, bin ich erschrocken und dachte . . . Meinen Kameraden hat man hier draußen auch schon umgebracht!«

Es hätte des raschen Rippenstoßes Ramsays nicht bedurft, um den hellen Peter Owen die Bedeutung dieses glücklichen Zufalls sofort erfassen zu lassen. Er gab das mißhandelte Kinn jäh frei und griff sogar mit zwei Fingern entschuldigend an die Mütze.

»Tja, das hätten Sie gleich sagen sollen, Menschenskind«, meinte er im Tone leisen Vorwurfs. »Wenn einer so hurtig in die Tasche fährt, kann man ihn nicht erst fragen, was das zu bedeuten hat.« Er bückte sich, nahm den Gegenstand unter seinem Fuß auf und betrachtete ihn mit großer Sachkenntnis. »Ein feines Messer«, sagte er. »So ein niedliches Ding mit vier Schneiden. Das rutscht überall so glatt hinein, als ob der Mensch aus Butter wäre. Wenn Sie gestatten, werde ich den hübschen Zahnstocher als Andenken behalten.«

Damit ließ er das kurze Stilett auch schon in seiner Joppe verschwinden, und der andere erhob keinen Widerspruch. Er schien mit einem Entschluß zu ringen und rückte endlich auch damit heraus.

»Es wäre auf ehrliche Weise so nebenbei eine Kleinigkeit zu verdienen, Gentlemen«, sagte er. »Fünf Shilling für den Mann und außerdem die Zeche. Ich möchte mich nämlich da drinnen« – er deutete mit dem Kopf nach der Tanzdiele – »nach jemandem umsehen, aber allein scheint mir's zu gefährlich. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, was meinem Kameraden geschehen ist. Wenn Sie mich also jetzt mit hineinnehmen und dann wieder bis in eine halbwegs sichere Gegend zurückbringen wollten, würden Sie mir einen großen Gefallen tun, und es soll nicht umsonst sein . . .«

Der Mann, der recht gut aussah, hatte seinen Vorschlag eindringlich vorgebracht, aber Peter schielte unschlüssig auf Ramsay.

»Gut«, sagte dieser heiser, »das Geschäft machen wir. Fünf Shilling für den Mann und die Zeche . . .«

Damit schritten sie auch schon zu dritt über den kleinen Platz den ›Lustigen Weibern‹ zu, wo eben ein neuer Tanzschlager die Beine und die Gemüter gewaltig in Wallung brachte.


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