Louis Weinert-Wilton
Die chinesische Nelke
Louis Weinert-Wilton

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

23

Über Maud Hogarth war nach den letzten Stunden fieberhafter Erregung eine wohltuende Entspannung gekommen. Wenn sie das Überraschende auch nicht begriff, so klammerte sich doch ihr Hoffen daran. Sie fand keinen Grund, warum der Mann mit der chinesischen Nelke sie hätte täuschen sollen, da er doch von ihr nichts Besonderes verlangte, und sie fand an diesem Manne sogar einiges, was sie drängte, ihm zu vertrauen. Nur der Umstand, daß sie ihm in einem Netz von geheimnisvollen Umtrieben und Verbrechen begegnete, ließ sie noch argwöhnisch bleiben.

In ihrer Nachdenklichkeit fuhr sie ein sehr langsames Tempo, und sie mäßigte es noch mehr, als der Flockenbelag an der Schutzscheibe immer dichter wurde. Der eisige Wind hatte sich gelegt, und vom grauen Himmel fiel der Schnee träge herunter.

Erst als Maud Bayswater erreicht hatte, wurde sie für einen Augenblick aufgerüttelt. Von hinten kam eine schwere Maschine herangedonnert, aber bevor das Mädchen auf das scharfe Hupensignal noch den Kopf zu wenden vermochte, fegte bereits ein dunkles Etwas heulend vorüber, und in der nächsten Sekunde waren auch die Schlußlichter schon wieder verschwunden. Dieser eilige Wagen fuhr durch Bayswater zum Holland Park hinüber und hielt dann auf eine ausgedehnte Villenkolonie zu.

Donald Ramsay legte seine Hand leicht auf den Arm Brooks. »Dort drüben muß es irgendwo sein«, sagte er. »Sobald wir einem lebenden Wesen begegnen, erkundigen Sie sich.«

Das lebende Wesen war ein intelligenter Diener, der von einer Weihnachtsunterhaltung heimstapfte. Er wußte genau Bescheid und war sogar so zuvorkommend, ein kleines Stück neben dem Wagen herzugehen, um das betreffende Haus zu zeigen. Von dem Gebäude selbst war allerdings nichts zu sehen, aber die Umrisse der Gartenmauer hoben sich trotz der Dunkelheit und des Schneefalles deutlich vom sanften Hang ab.

Das Auto setzte sich wieder in Bewegung, schlug jedoch anscheinend eine falsche Richtung ein. Als es nach einigen Minuten auf einem holprigen Heckenweg hielt, lag die Gartenmauer noch einige hundert Schritte zur Seite.

Ramsay sprang aus dem Wagen. »Wenn es so ist, wie ich vermute, haben wir höchstens einen Vorsprung von einer Viertelstunde«, sagte er, indem er auch schon mit großen, eiligen Schritten ausgriff, und der phlegmatische Brook hielt sich in seinen Fußstapfen. Die Taschen seines Mantels standen etwas unförmig ab, und er machte sich unausgesetzt mit den Händen darin zu schaffen. Sein Begleiter wurde endlich darauf aufmerksam.

»Nicht zu hitzig!« mahnte er ernst und äußerte dann ganz den gleichen Wunsch, den der Chef dem eifrigen Simonow mit auf den Weg gegeben hatte: »Es darf keinen Lärm geben . . .«

Brook nickte verständnisvoll, und zur Beruhigung des andern fügte er noch hinzu: »So ein Gummischlauch ist ja keine Blechröhre.«

An der Parkmauer angelangt, konnte Ramsay rasch feststellen, was er vor allem wissen wollte. Beim Haupttor waren unter der leichten Schneedecke bloß die Radspuren eines großen Wagens wahrzunehmen, der Zweisitzer war also hier nicht durchgekommen. Die beiden Männer umkreisten daher die Mauer, und das Garagentor auf der Rückseite offenbarte ihnen den Weg, den Maud Hogarth genommen hatte und auf dem sie wohl auch zurückkehren würde.

Dieser schmale Fahrweg grenzte an freies Feld und war längs desselben von einer Hecke eingesäumt. In ihr gab es ungefähr alle zehn Schritte einen Durchlaß, und Ramsay benützte die nächste Lücke, um sich hinter diese Deckung zu schlagen. Die Unterredung mit Maud Hogarth hatte ihm die letzten Zweifel darüber genommen, daß er durch die ›Chinesische Nelke‹ auf jene Spuren geführt worden war, die er suchte, und er wollte nun im ersten Anlauf so viele Fäden in die Hand bekommen, als er erhaschen konnte. Deshalb interessierten ihn auch die Leute, die Mauds wegen vielleicht kommen würden . . .

Diese Leute kamen genau nach einer Viertelstunde, wie er es berechnet hatte. Es waren ihrer zwei, die vorsichtig längs der Mauer heranschlichen, und Brook hatte die beiden Schatten kaum bemerkt, als er sich auch schon zu Ramsay neigte.

»Simonow!« flüsterte er.

Der andere, ein großer, athletischer Mann in einem Ledermantel, machte plötzlich halt, während Simonow sich bis zum Garagentor wagte. Er war offenbar genau orientiert, denn er warf nur einen flüchtigen Blick auf den Boden vor der Ausfahrt und winkte dann sofort seinen Begleiter heran.

Nach einer kurzen Beratung entschieden sie sich für die einzige Möglichkeit, die es für ihr Vorhaben gab. Die Garage stieß etwa einen Meter über die Mauerlinie vor, und wenn die mit dürrem Gestrüpp bestandenen Winkel zu beiden Seiten auch bei Tage kein genügendes Versteck gebildet hätten, so boten sie bei der herrschenden Dunkelheit immerhin einige Deckung.

Der Zweisitzer kam fast geräuschlos angefahren, aber Maud Hogarth verriet weder Ängstlichkeit noch das leiseste Mißtrauen. Die bedenkliche Episode mit dem Gärtner schien sie vergessen zu haben, oder sie legte ihr keine Bedeutung bei.

Sie brachte zunächst den Wagen in die Richtung der Einfahrt, dann stieg sie aus, schloß die Tür auf und schob die beiden Flügel zur Seite . . .

Als sie sich wieder ans Lenkrad setzen wollte, geschah es . . .

Simonow tat einen gewaltigen Sprung, und als Maud herumfuhr, glitt ihr schon ein steifer Jutesack über Kopf und Schultern bis zu den vor Schreck gelähmten Händen. Und während der geschickte Simonow sie mit starken Armen festhielt, wand der andere blitzschnell einen breiten Gurt um die Hülle.

Es war eine so rasche, glatte und geräuschlose Arbeit gewesen, daß der begeisterte Simonov sie loben mußte, bevor sie noch ganz getan war. »Siehst du, mein Junge«, keuchte er, »so . . .«

Was er weiter sagen wollte, verschlang ein dumpfer Schlag, der ihn mit dem Gesicht etwas heftig auf dem Trittbrett des Wagens landen ließ. Und noch in derselben Sekunde lag sein Genosse zwei Schritte neben ihm und hatte sich eine Radnabe als Kopfkissen ausgesucht.

»So . . .«, sagte Brook mit sachlicher Ruhe und entwickelte ohne weiteren Zeitverlust in den Taschen der beiden erschütterten Gentlemen eine emsige Geschäftigkeit.

Maud Hogarth wußte nicht was um sie vorging, aber sie fühlte plötzlich, wie die Arme, die sie umklammerten, von ihr ließen. Sie nützte diese Gelegenheit, um unter verzweifelten Hilferufen blindlings vorwärts zu stürzen. Es war ein aussichtsloses Beginnen, denn sie vermochte ja ihren Weg nicht einmal abzutasten, und ihre Schreie erstickten in der Hülle. Sie stolperte zufällig gerade auf die Mauer los. Aber schon nach den ersten Schritten spürte sie wieder den Griff einer Hand und bot den ganzen Widerstand auf, dessen sie fähig war.

»Halten Sie nur eine Minute still, Miss Hogarth, Sie werden das schreckliche Ding sofort los sein«, sagte jemand etwas ungeduldig, und die Stimme überraschte sie so, daß sie wirklich gehorchte. Im nächsten Augenblick wurde der Sack behutsam von ihrem Kopf gezogen. Aber Maud war am Ende ihrer Kräfte. Sie begann zu schwanken, und Ronald Ramsay legte rasch seinen Arm um sie.

Die Schwäche ging bald vorüber, und als Maud die Augen wieder aufschlug, beschäftigten sie die anderen Dinge zu sehr, als daß sie daran gedacht hätte, sich von der fürsorglichen Stütze freizumachen. Sie lehnte an der Schulter des Mannes mit der chinesischen Nelke und starrte verständnislos auf das wüste Bild, das sich ihr bot. Und dann blickte sie mit einer stummen, bangen Frage zu dem unbewegten Gesicht auf.

Ramsay nickte ihr beruhigend zu und lächelte so belustigt, als ob es eben einen harmlosen Spaß gegeben hätte. »Sie sehen, nun sind die Rollen gründlich vertauscht«, sagte er, indem er auf die beiden reglosen Gestalten wies, mit denen Brook etwas unsanft umging. »Ich glaube, es wird den Burschen einige Tage sehr leid tun, Sie belästigt zu haben.«

Maud schauerte leicht zusammen, und Ramsay zog sie besorgt noch etwas fester an sich.

Auch das ließ sie ruhig geschehen.

»Warum das alles?« fragte sie endlich.

»Das war die Konkurrenz«, bekam sie zur Antwort. »Man wollte sich schleunigst Ihrer Person versichern, damit Sie die Papiere nicht etwa mir aushändigen.« Er änderte den leichten Ton und wurde ernst und eindringlich. »Sie müssen mir versprechen, von nun an ganz besonders auf der Hut zu sein, Miss Hogarth. Der Vorfall hat Ihnen ja gezeigt, daß diese Leute vor nichts zurückschrecken.«

Es klang ehrliche Sorge aus den Worten, und als Maud die Augen hob, begegnete sie einem Blick, der sie in mädchenhafter Verwirrung rasch wieder die Lider senken ließ. Und plötzlich fühlte sie auch den Arm, der sie noch immer stützte, und fast erschreckt wich sie zurück.

Aber Ramsay half ihr über die peinliche Verlegenheit hinweg. »So«, sagte er, indem er sich in den Wagen schwang, »und nun gehen wir schlafen. Sie haben einen anstrengenden Abend hinter sich und werden gewiß sehr müde sein.«

Er lenkte den Zweisitzer durch die Einfahrt, und Maud folgte ihm gehorsam. Zum zweiten Male wurde sie einfach verabschiedet, aber seltsamerweise fühlte sie sich durch seine bestimmte Art nicht verletzt.

Donald Ramsay lüftete wiederum sehr höflich den Hut, und diesmal hatte Maud Hogarth darauf ein leichtes Nicken. Als aber die Garagentür zugerollt war, klopfte es innen plötzlich, und Ramsay fuhr herum.

»Ja?« meldete er sich.

»Ich habe ganz vergessen, Ihnen zu danken«, sagte eine weiche, schüchterne Stimme. »Und – gute Nacht.«

»Gute Nacht, Miss Hogarth«, erwiderte der Mann mit der chinesischen Nelke und starrte dann mit dem Hut in der Hand so traumverloren auf die geschlossene Tür, daß sein Begleiter endlich ungeduldig wurde. Auch er hatte den Hut in der Hand, und in diesem Hut lagen allerlei Dinge.

»Das ist alles, was ich gefunden habe, Sir«, sagte er. »Vielleicht sehen Sie es sich ein bißchen näher an.«


 << zurück weiter >>