Louis Weinert-Wilton
Die chinesische Nelke
Louis Weinert-Wilton

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

21

Maud Hogarth fuhr auf ihrem Sitz herum, weil von der Seite ein Schatten in den Wagen fiel . . .

Ihre Nervosität war in der Viertelstunde, die sie nun schon vergeblich nach der Station hinüberblickte, aufs höchste gestiegen. Wenn der Mann mit der chinesischen Nelke die Verabredung nicht einhielt, sah sie sich weiter der qualvollen Ungewißheit gegenüber, an der sie nach den Geschehnissen des verflossenen Abends doppelt schwer zu tragen hatte.

Und es fehlten nur mehr drei Minuten zu der vereinbarten Zeit – jetzt – zwei und nun nur mehr eine . . .

Maud erblickte an dem halb herabgelassenen Fenster zur Linken ein Gesicht, das sie sofort wiedererkannte, und vernahm eine gelassene, sehr angenehm klingende Stimme. »Es wird sich empfehlen, Miss Hogarth, daß wir uns für unsere Unterredung einen anderen Ort aussuchen. Ich glaube, man ist Ihnen gefolgt.«

Maud war so erregt, daß sie zunächst nicht verstand. Dann aber war sie so bestürzt, daß sie kaum zu sprechen vermochte. »Wer?« brachte sie mühsam hervor.

»Das werden wir sofort hören«, sagte Ramsay, und es lag etwas in seiner Art, das sie ruhiger werden ließ. Sie folgte seinem Blick, gewahrte aber den zweiten Mann erst, als er sich dicht beim Wagen aus dem Schatten der Häuser löste.

»Nun?« fragte der Herr mit der chinesischen Nelke, und Maud war so gespannt, daß sie sich über das plötzliche Auftauchen eines Dritten keinerlei Gedanken machte.

Brook erstattete höchst gelangweilt einen sehr knappen Bericht. »Der Mann hatte drei Ausweise bei sich. Einen auf den Namen Jack Storey, der zweite gehörte einem Peter Malone . . .«

»Peter Malone?« fiel Maud überrascht ein. »So heißt unser Gärtnergehilfe. Er wurde erst vor einem Vierteljahr eingestellt.«

»Dann war er drei Monate zu lang in Ihren Diensten, Miss Hogarth«, bemerkte Ramsay leichthin, und auch Brook war offenbar dieser Ansicht, denn er nickte sehr nachdrücklich.

»Er scheint auch einen ganz anderen Beruf zu haben«, sagte er trocken und begann in der Tasche seines Mantels mit irgend etwas zu klimpern. Dann zog er einen Drahtring hervor, an dem ein ganzes Bündel von Metallstäben baumelte.

Ramsay besah sich die Sache flüchtig, dann steckte er die Hand durch das halb geöffnete Fenster und legte den Bund neben Maud: »Dietriche. Es ist am besten, Sie nehmen diese Zauberstäbchen in Verwahrung. Wenn Sie einmal Ihre Schlüssel verlegt haben sollten, werden sie Ihnen gute Dienste leisten. Ich vermute, daß sich unter Ihrer Dienerschaft noch der eine oder andere finden wird, der damit umzugehen weiß.« Er wandte sich wieder an Brook. »Ist von dem Burschen noch eine Störung zu befürchten?«

Der gesetzte Mann schüttelte den Kopf, gab aber keine klare bestimmte Antwort. »Wenn er wieder zu sich gekommen sein wird«, sagte er ausweichend, »wird er wohl zunächst seine Pantoffeln suchen, die mir leider in ein Kellerloch gefallen sind. Und dann bin ich ungeschickterweise auch noch in die Speichen seines Rades getreten.«

»Das genügt«, bemerkte Ramsay, und diesmal war es sein leises Lachen, das Maud Hogarth ganz eigen berührte. Dann aber fing sie den kurzen Wink auf, der den Dritten verschwinden ließ, als ob ihn die Straße verschluckt hätte, und sie wußte, daß nun der Kampf beginnen sollte. Sie hatte sich darauf vorbereitet, sofort zum Angriff überzugehen, die ersten Augenblicke der Begegnung waren jedoch anders verlaufen, als sie es sich vorgestellt hatte, und sie war dadurch völlig aus dem Konzept geraten.

Selbst als der Mann mit der chinesischen Nelke schon eine volle Minute am Fenster lehnte und offenbar das erste Wort von ihr erwartete, fand sie den wohlgesetzten Anfang noch immer nicht. Aber schließlich wurde ihr das hartnäckige Schweigen so unerträglich, daß sie aufs Geratewohl losbrach.

»Was wünschen Sie also? Ich habe Ihre Ankündigung gelesen und auch die Blumen erhalten – es war daher überflüssig, mir auch noch vor aller Öffentlichkeit zu drohen, wie Sie es heute abend durch ihr auffallendes Benehmen getan haben. Wenn Sie glauben, mich dadurch einschüchtern zu können, so irren Sie sich. Sie werden ebensowenig erreichen wie Major Foster. Es gibt nichts, was mich veranlassen könnte, die Papiere herauszugeben. Und wenn Sie die schändliche Absicht haben sollten, die Ehre des Toten wiederum aufs Spiel zu setzen, so werde ich dem zu begegnen wissen. Ich warne Sie . . .«

Sie holte tief Atem, und ihre flammenden Augen forschten beklommen in dem Gesicht des Mannes am Fenster. Was würde nun kommen?

Ramsay ließ sich Zeit. Er wischte mit der behandschuhten Linken an der angelaufenen Glasscheibe herum, und dem jungen Mädchen drängte sich neuerlich das beängstigende Gefühl auf, daß dieser schweigsame Mann ein weit gefährlicherer Gegner sei, als Foster, der ohne Umschweife und mit rücksichtsloser Offenheit auf sein Ziel losgegangen war.

»Die Papiere – ja . . .«, begann er endlich, aber die Art, wie er jedes Wort bedachtsam abwog, bedeutete für Maud eine förmliche Folter. »Darüber müssen wir also nun irgendwie einig werden. Vielleicht gibt es doch Umstände, die Sie bewegen können, Ihren Entschluß zu ändern. Es könnte ja sein, daß . . .«

Maud hob gebieterisch die Hand. »Warten Sie«, sagte sie. »Bevor Sie mit Ihren Drohungen herausrücken, hören Sie mich an. Damit wir nicht unnütz Zeit verlieren.« Ihre Stimme klang nun völlig sicher, hart und kalt. »Ich weiß nicht, ob Sie derjenige sind, der in dieser dunklen Angelegenheit die führende Rolle spielt, oder bloß ein Werkzeug, wie Foster es offenbar war. Aber das ist schließlich Nebensache. Sie können Ihrem Auftraggeber bestellen, was ich Ihnen nun sagen werde. Es ist mein unerschütterlicher Entschluß: was immer Sie auch vorhaben mögen, die Papiere bekommen Sie nicht in Ihre Hände. Ich habe meinem Oheim in seiner Sterbestunde das Versprechen gegeben, die Dokumente der ›Chinesischen Nelke‹ niemandem zu übergeben, und dieses Versprechen werde ich halten. Dagegen bin ich bereit« – sie wandte den Blick von Ramsay ab und sah starr geradeaus – »für ein etwa vorhandenes weiteres Schriftstück von der Art, wie ich Major Foster eins abgenommen habe, jeden Preis zu bezahlen. Onkel Herbert muß nicht bei Sinnen gewesen sein, wenn er sich wirklich auf so etwas eingelassen hat.«

Sie kämpfte gegen eine heftige Bewegung an, faßte sich aber sofort wieder. »Jeden Preis – haben Sie gehört?« fuhr sie mit der früheren Schärfe fort. »Sie sollten doch schon um Ihretwillen die Dinge nicht auf die Spitze treiben. Foster hat mir angedeutet, worauf die Papiere sich beziehen – und ich vermute daher, weshalb Sie und die Ihren daran ein so lebhaftes Interesse haben. Wenn für mich die einzige Veranlassung zum Schweigen entfällt, könnte Ihnen das verhängnisvoll werden. Auch deshalb, weil man dann wohl neuerlich und gründlicher als das erste Mal nachforschen würde, warum und von wessen Hand Foster ermordet wurde.«

Ihre halb geschlossenen Augen hefteten sich drohend auf das steinerne Gesicht des Mannes mit der chinesischen Nelke. »Haben Sie mich verstanden? Und wofür entscheiden Sie sich also?«

»Ich glaube Sie verstanden zu haben«, sagte Donald Ramsay. »Aber bevor ich mich entscheide, möchte ich Sie bitten, mir einige Fragen zu beantworten.«

»Fragen Sie.« Es klang wenig liebenswürdig und ungeduldig.

»Haben Sie die Papiere so sicher verwahrt, daß sie nicht auf die eine oder die andere Weise doch in fremde Hände kommen können?«

Er schien ihre Antwort mit großer Spannung zu erwarten, und um Mauds hübschen Mund zeigte sich ein verächtliches Lächeln.

»Sie meinen, ob man sie mir nicht stehlen kann? Nein, von dieser Möglichkeit haben Sie nichts zu erhoffen. Das sollten Sie übrigens schon wissen. Man hat unser Haus bereits wiederholt aufs gründlichste durchsucht, und ich nehme an, daß Sie davon erfahren haben . . .«

Sie stockte plötzlich und blickte etwas betroffen und ratlos drein. »Das verstehe ich nicht«, sagte sie dann völlig zusammenhanglos. »Warum haben Sie den Gärtner so behandelt? Wenn er mir gefolgt ist, so kann er das doch nur in Ihrem oder Ihrer Leute Auftrag getan haben . . .«

Ramsay hielt diese Episode für zu unwesentlich, um darauf einzugehen, und auch sonst enttäuschte er Maud. »Ihre Versicherung beruhigt mich«, erklärte er kurz und stellte sofort eine weitere Frage. »Seit Major Foster ist also niemand wegen der Dokumente mit Ihnen in Verbindung getreten?«

»Nein«, erklärte Maud mit steigender Ungeduld. Sie hatte sich den Verlauf dieser Unterredung ganz anders gedacht. Viel dramatischer, aber auch ergiebiger. Bisher war noch kein Wort gefallen, das sie über die Absichten des andern hätte klarer sehen lassen. Welchen Zweck verfolgte der Mann damit, daß er sie mit nebensächlichen Fragen hinhielt?

»Nein«, wiederholte sie. »Oder . . .« – in ihrem ernsten Gesicht erschien wieder das halb spöttische, halb verächtliche Lächeln – »warten Sie, vielleicht doch. Ich vermute, mein Anwalt hatte die Absicht, es zu tun. Gerade an dem Morgen, an dem die Anzeige erschienen war und Sie die Aufmerksamkeit hatten, mir die Blumen zu schicken. Ich habe ihm jedoch sehr entschieden abgewinkt, noch bevor er so recht zur Sache kommen konnte. Falls Sie mit dem Manne rechnen sollten, dürften Sie enttäuscht werden. Ich mag diesen Mr. Gardner nicht. Wenn ich ihm meine Verteidigung übertrug, so geschah es nur, weil mir auch der beste Anwalt nicht nützen und der schlechteste nicht mehr schaden konnte, als ich selbst es tun mußte. Ich wundere mich noch immer, daß ich so glimpflich davongekommen bin. Sie und Ihre Leute hatten wohl einen Ausgang erhofft, der mich für immer unschädlich machen würde. Denn wenn ich auch nicht weiß, warum man Major Foster aus dem Weg geräumt hat, so ist mir doch klar, daß man hierfür eine Gelegenheit wählte, die mich belasten mußte.«

Auch dieser ungeheuerliche Vorwurf vermochte den Mann am Fenster nicht aus seiner Ruhe zu bringen.

»Ich werde Ihnen also einen Vorschlag machen«, sagte er unbeirrt, und Maud horchte auf. »Er ist annehmbar, denn ich biete Ihnen eine sehr wertvolle Gegenleistung . . .«

»Was verlangen Sie?« forschte Maud argwöhnisch.

»Nichts, worauf Sie nicht ohne weiteres eingehen könnten: ich bitte Sie bloß, mich über alle Geschehnisse, von denen Sie annehmen, daß sie irgendwie mit der ›Chinesischen Nelke‹ zusammenhängen, sofort zu unterrichten. Ich werde Ihnen eine Telefonnummer nennen, die Sie zu jeder Stunde anrufen können, wenn Sie eine Mitteilung für mich haben. Auch wenn ich nicht zu erreichen sein sollte, wird Ihre Botschaft zuverlässig bestellt werden. Und dann müssen Sie mir natürlich gestatten, mich jederzeit mit Ihnen in Verbindung zu setzen, falls sich dies notwendig erweisen sollte. Es mag dies für Sie zwar nicht gerade angenehm sein, aber an sich ist es gewiß nicht zuviel.«

»Und die Gegenleistung?« fragte Maud nach kurzem Bedenken.

»Die Gegenleistung – ja . . .« Der Mann mit der chinesischen Nelke nahm den Hut ab, auf dem eine dünne wäßrige Schneeschicht lag, und schob den Kopf in den Wagen. Zum ersten Male hatte Maud das energische Gesicht so nahe vor sich, daß sie deutlich jeden Zug zu unterscheiden vermochte, und sie mußte zugeben, daß es sehr vornehm wirkte. Aber dann begegnete sie den scharfen grauen Augen und fühlte sich plötzlich so befangen, daß sie ihnen auswich.

»Also die Gegenleistung besteht in einer Zusage, Miss Hogarth«, sagte Donald Ramsay nachdrücklich. »In der Zusage, daß das, was Sie befürchten, nie eintreten wird. Das heißt mit anderen Worten, daß Sie all der Sorgen und Rücksichten, die Ihnen bisher so viel zu schaffen machten, mit einem Schlag ledig sein werden. Das läßt sich doch gewiß hören.«

Maud war zu überrascht, um sofort eine Antwort zu finden. Diese Wendung der Dinge, die der Unbekannte ihr mit solcher Bestimmtheit in Aussicht stellte, war ihr unfaßbar. »Wieso können Sie das versprechen?« brachte sie endlich stockend hervor, und in ihren geweiteten Augen spiegelten sich Hoffnung und Ungläubigkeit.

Aber wiederum mußte sie sich mit einer halben Antwort begnügen.

»Ich glaube, ich könnte Ihnen sogar noch mehr versprechen. Das wäre jedoch zuviel des Guten auf einmal. Bleibt es also bei unserem Pakt?«

Maud Hogarth zögerte unschlüssig. Die Unterredung hatte ihr nicht nur keine Klarheit, sondern neue Rätsel gebracht, mit denen sie nicht fertig werden konnte. Aber was man ihr eben versprochen hatte, war wohl eines Wagnisses wert. Und dabei verlangte man eigentlich gar nichts Besonderes von ihr . . .

»Die Nummer, bitte«, sagte sie, ohne den Blick zu heben.

»Drehen Sie einfach ›Central‹ und fünf Einser«, hörte sie dicht neben sich. »Und der Name ist Donald Ramsay.«

Dann blieb es still, und als sie aufsah, stand der Mann mit der chinesischen Nelke bereits wieder aufgerichtet neben dem Wagen. Er lüftete sehr förmlich den Hut, und Maud Hogarth verstand, daß die Unterhaltung beendet war.

Der kleine Zweisitzer war noch in Sicht, als sich Ramsay in einem plötzlichen Einfall an den Mann im Schatten wandte.

»Was ist mit dem Gärtner?«

»Vor etwa fünf Minuten hat er sich zusammengeklaubt und auf die Strümpfe gemacht«, erklärte Brook grinsend. »Ich bin ihm noch ein Stück nachgegangen und habe gesehen, daß er in eine Telefonzelle ging. Aber es war bereits zu weit, und ich . . .«

»Den Wagen!« befahl Ramsay, und die Hast seiner Worte deutete das Tempo an, in dem er die Ausführung des Auftrages erwartete. »Wir müssen den Zweisitzer unbedingt überholen. – Notting Hill – den Holland Park entlang . . .«

In der nächsten Seitenstraße heulte bereits ein arg mißhandelter Motor auf.


 << zurück weiter >>