Louis Weinert-Wilton
Die chinesische Nelke
Louis Weinert-Wilton

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20

Maud Hogarth befand sich in einer Erregung, die ihr weder die Absonderlichkeit noch die Gefährlichkeit ihres Schrittes zum Bewußtsein kommen ließ. Sie dachte unausgesetzt nur an das, was sie zu verteidigen hatte.

Nach der schweigsamen Heimfahrt – Tante Ady war mit einem seligen Lächeln bereits im Wagen eingeschlummert – zog sich Maud gleich zurück und kleidete sich in aller Eile um. Dann wartete sie mit nervöser Ungeduld, bis das Haus zur Ruhe käme.

Kurz nach ein Uhr war es endlich soweit. Maud schlüpfte in einen pelzgefütterten Mantel, drückte einen Sporthut tief in die Stirn und schlich in den Park. Die Garage lag an der rückwärtigen Umfassungsmauer und hatte eine direkte Ausfahrt nach einem Nebenweg, so daß man das Haupttor nicht passieren mußte. Auch der Zweisitzer, den sie zu benützen pflegte, wenn sie selbst steuerte, stand bereit, und schon in wenigen Minuten hatte sie ihn aus der Garage gebracht und schloß diese nun wieder ab. Sie ging dabei möglichst geräuschlos zu Werke, fand es aber nicht notwendig, auch sonst noch irgendwelche besondere Vorsicht zu beobachten. Ohne sich auch nur einmal umzusehen, stieg sie in den Wagen und lenkte ihn auf die Hauptstraße.

 

Donald Ramsay war trotz des zeitraubenden Zwischenspiels im Hotel pünktlich. Als er Brook in der Nähe der Westbourne-Park-Station halten ließ, fehlte an den vereinbarten zwei Stunden noch fast eine halbe. Aber er wollte sich den Platz zunächst etwas genauer ansehen, denn nun, da er in diesem unerwarteten Abenteuer so weit gelangt war, durfte es auf keinen Fall durch ein leidiges Mißverständnis sein Ende finden.

Wenn er noch vor Stunden im Zweifel darüber gewesen war, ob er seine Zeit an das Rätsel der ›Chinesischen Nelke‹ verschwenden durfte, so hatten ihn die Ereignisse des Abends die Überzeugung gewinnen lassen, daß er von seiner Eingebung wirklich wieder einmal ganz unbewußt geleitet worden war. Noch ahnte er zwar von dem Kern der Sache so gut wie nichts, aber seine scharfen Augen hatten ihn Dinge und Zusammenhänge sehen lassen, die unbedingt der Aufklärung wert waren. Und dann hatte ihm so nebenbei Brook auch noch von der Tätigkeit dieses Simonow in Nanking erzählt . . .

Donald war sich darüber klar, daß seiner Zusammenkunft mit Maud Hogarth eine ganz besondere Bedeutung zukam, denn schon allein der Umstand, daß Maud auf die chinesische Nelke an seinem Frack reagierte, hatte die andern veranlaßt, sofort zu den äußersten Mitteln zu greifen. Die junge Dame mußte also sehr viel und sehr Gefährliches wissen, und wenn es ihm gelang, sie zum Sprechen zu bringen, würde er wohl mit einem Schlage klarer sehen. Aber er war dieses Erfolges nicht ganz sicher. Er hatte sich eine Rolle zugelegt, die ihm völlig fremd war, und er tappte bezüglich der Dinge, in die er einzugreifen beabsichtigte, völlig im dunkeln. Wenn er irgendeinen kleinen Fehler beging und sie die Täuschung merkte, konnte er kurz vor dem Ziel noch scheitern.

Die Situation bei der Westbourne-Park-Station war nicht so, daß die Gefahr eines Verfehlens bestanden hätte. Die Südfront war von der gegenüberliegenden Häuserreihe sehr leicht zu übersehen, und Ramsay entschloß sich, in einer der dort mündenden kleinen Straßen zu warten. Er ging sogar so weit hinein, bis er einen Torbogen fand, der vor dem eisigen Wind und dem leichten Schneetreiben, das eben einsetzte, einigen Schutz bot.

»Ich erwarte jemanden zu einer wichtigen Unterredung«, wandte er sich endlich an Brook, der ihm die ganze Zeit über steif und schweigsam gefolgt war. »Wenn aber etwa noch ein anderer auftauchen sollte, kümmern Sie sich um den.«

Diese Weisung klang etwas unklar, doch Brook sagte sein gelangweiltes »Sehr wohl, Sir«.

Zunächst erschienen am anderen Ende der Straße zwei Lichter, und ein kleiner Wagen kam herangerollt. Er fuhr dicht an den Randsteinen und so langsam, daß die Frau am Steuer deutlich zu erkennen war, als das Auto an dem Torbogen vorüberglitt. Vorne an der Straßenecke stoppte Maud Hogarth und schien sich nun ebenfalls über die Örtlichkeit zu orientieren.

Ramsay schenkte dem Wagen zunächst keine Beachtung, sondern sah gespannt nach der Richtung, aus der dieser gekommen war. Nach wenigen Augenblicken zeichnete sich dort ein schmaler, hoher Schatten ab, der mit großer Geschwindigkeit näher kam. Auf einmal aber schien er auseinanderzufallen und verschwand in nichts . . .

»Ein Radfahrer . . .«, flüsterte Brook und schob sich auch schon die Häuserreihe entlang . . .

Wieder eine Minute später leuchtete ungefähr in der Mitte der Straße bei einem der Tore ein winziger Punkt auf, und ein offenbar sehr reichlich bewirteter Gast machte sich auf einen schwierigen Heimweg. Er freute sich, daß die Straße so breit war, daß man nicht bei jedem Schritte irgendwo anstieß, und wenn ihm die tückischen Hausmauern drüben doch zu nahe kamen, drohte er ihnen schelmisch mit dem Finger und lavierte breitbeinig wieder nach der anderen Seite. Und um sicher zu sein, suchte er mit der Taschenlampe seinen Zickzackweg mit gründlicher Vorsicht ab.

Daß er hierbei plötzlich auf ein menschliches Wesen stieß, das an solch einer gefährlichen Mauer zu kleben schien, versetzte ihn in maßlose Verwunderung. »Ein Mensch . . .«, stellte er fest. »Wahrhaftig ein Mensch . . .« Und da er diese Möglichkeit aus irgendeinem Grunde noch immer nicht ganz zu fassen vermochte, ließ er den Lichtkegel seiner Lampe prüfend vom Kopf bis zum Fuß dieses Wunders gleiten.

Das Wunder war ein jüngerer, stämmiger Mann in etwas mangelhafter Bekleidung. Er trug unter der Joppe keinen Hemdkragen, seine Hosen saßen locker, und an den Füßen hatte er bloß ein Paar Filzpantoffeln. Er blinzelte mit gefletschten Zähnen in das unangenehme Licht und zeigte sich sehr unliebenswürdig. »Scheren Sie sich zum Teufel . . .«, zischte er.

Der Herr suchte den Sinn dieser Worte zu fassen. »Jawohl«, erklärte er etwas schwerfällig, aber höflich, »ich gehe nach Hause. Aber ich habe Zeit . . .«

Der andere schien keine Zeit zu haben, denn er faßte mit einem saftigen Fluch nach seinem Rad.

Dieses Rad war für den Herrn eine neue aufregende Entdeckung. »Ein Fahrrad . . .«, stieß er hervor, indem er die stützende Mauer jäh losließ und sich dafür an die Lenkstange klammerte. »Zum Fahren . . . Wahrhaftig . . .« Und dann kam ihm ein Einfall, der ihn begeisterte. »Sie werden mir das Rad leihen«, lallte er. »Ich fahre nach Hause. Ich werde es diesen verdammten Beinen schon zeigen. Kaum gönnt man sich ein bißchen Alkohol, fangen sie an zu wackeln. So ein Rad aber – famos . . . Fährt immer hübsch geradeaus . . .«

Die Geduld des Mannes war am Ende. Er riß mit einem Ruck das Rad an sich, aber der Herr hielt fest und kam torkelnd mit.

»Ich werde dich in den Dreck legen, wo du hingehörst, du besoffenes Schwein«, keuchte der Mann in heller Wut und fuhr dem hartnäckigen Fahrradfreund an die Kehle . . .

Im nächsten Augenblick gab es zunächst einige klatschende Schläge und dann einen harten dumpferen Schlag, der bis ans Ende der Straße zu hören war.

Donald Ramsay hatte nun keinen Grund mehr, die bedeutsame Unterredung noch weiter hinauszuschieben.


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