Louis Weinert-Wilton
Die chinesische Nelke
Louis Weinert-Wilton

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35

Fünfhundert Pfund sind gewiß ein hübsches Stück Geld, aber der Mann, der sich derart für Maud Hogarth interessierte, war für den geheimnisvollen Herrn mit dem buschigen Schnurrbart um diese Stunde bereits unendlich mehr wert . . .

Der biedere Peter Owen hatte weder von dem ›Durstigen Stockfisch‹ noch von seiner Freundschaft mit Tim Blake zu viel versprochen. Das langgestreckte Lokal war gerammelt voll, aber wenn man von draußen kam fühlte man dies zunächst mehr, als man es sah. Von der geschwärzten Decke bis herunter zu dem abgeschliffenen Bretterboden wogte eine dichte Rauchwolke, und man konnte kaum die verschwommenen Gesichter und die gedrängten Leiber unterscheiden. Aber eben dieser dicke Qualm machte den Leuten von der Themse und vom Meer die Bude so heimisch, und auch Peter Owen fand sich sofort zurecht und schuf für seine beiden Begleiter ohne viel Umstände freie Bahn. Dabei drohten einige ernste Auseinandersetzungen, aber es kam nicht dazu. Als man erkannte, mit wem man es zu tun hatte, trat man beiseite; man wollte nicht wie Tim ein Auge riskieren.

Und Tim Blake wiederum war an seinem letzten offenbar sehr gelegen. Die Bewegung im Saal ließ ihn zwar mißtrauisch und kampfbereit hinter der Theke aufschnellen, aber sein übriggebliebenes Auge war scharf, und er kam auch schon diensteifrig angestürzt. Sein blatternarbiges Gesicht war so krampfhaft verzogen, als ob es eben einen Essigüberguß abbekommen hätte, und sein Blick flackerte vor Wiedersehensfreude.

Peter Owen klopfte ihm so gönnerhaft auf die Schulter, daß es im ganzen Raume zu hören war, und gab dann kurz seine Wünsche kund. Schon im nächsten Augenblick waren sie erfüllt. Tim sprang auf die kleine Estrade in der Mitte des Saales, gleich neben der Jazzkapelle, und machte einen Tisch frei, indem er den Gästen einfach die Stühle wegzog. Und dann tat er sogar noch ein übriges und säuberte mit seiner schmierigen Serviette die Sessel mit großer Gründlichkeit. Das war im ›Durstigen Stockfisch‹ seit Menschengedenken nicht geschehen und machte daher einen solchen Eindruck, daß sogar die Original-Niggerkapelle sekundenlang mit ihrem höllischen Spiel aussetzte.

Der ehemalige Oberbootsmaat nickte sehr befriedigt und sah dann erwartungsvoll, aber auch ein wenig gebieterisch auf den Schützling, den sie vor dem Lokal aufgelesen hatten. Der Mann war mittelgroß und schmächtig, hatte ein intelligentes Gesicht mit auffallend feinen Zügen und stach in seinem Benehmen sehr von der Gesellschaft ab, die im ›Durstigen Stockfisch‹ saß.

Er verstand auch sofort, was man von ihm erwartete, und ließ sich nicht lumpen. Er bestellte einen feinen Bratfisch und ein Steak und dazu einen ordentlichen Tropfen, mit dem man das Zeug hinunterspülen konnte. Der aufmerksam lauschende Peter fand die Wahl recht gut, aber nicht ganz vollständig und ergänzte sie noch durch eine scharf gewürzte Fischsuppe. Und als sein jüngerer Kamerad jeden Imbiß ablehnte, nahm Peter bereitwilligst auch noch diese Portion auf sich, damit sein Freund Tim nicht um den Verdienst käme.

Es wurde anfänglich ein sehr schweigsames Mahl, aber der Mann, der sich unter diese Obhut begeben hatte, war sehr zufrieden. In der Gesellschaft von Leuten, die hier mit derartigem Respekt behandelt wurden, konnte ihm kaum etwas Übles widerfahren, und solchen Gentlemen war er eigentlich eine gewisse Offenheit schuldig.

Während also Peter Owen die aus so uneigennützigen Gründen übernommene zweite Portion in Angriff nahm und der Matrose mit aufgestütztem Kopf auf dem Tisch lümmelte, begann der dritte in ihrer Runde plötzlich eine Geschichte zu erzählen. Er schickte nicht voraus, daß es seit Jahr und Tag sein Geschäft war, sich in aufsichtslos herumstehenden Autos ein bißchen näher umzusehen, und er hielt sich auch nicht allzu genau an die näheren Umstände, aber es ging ja um die Hauptsache, und diese war schließlich ziemlich verständlich.

»An einem Abend in diesem Frühjahr haben mein Freund George und ich drüben in Chelsea an einer Stelle, von der eben ein sehr feines Auto abgefahren war, eine kleine Kassette gefunden«, vertraute er seinen Beschützern an. »Sie sah aus, als ob sie aus Leder wäre, war jedoch aus richtigem Stahl und verdammt schwer aufzuknacken. Aber als wir sie doch endlich offen hatten, war sie leer. Schließlich entdeckten wir, daß sie einen doppelten Boden hatte, aber die Arbeit lohnte sich nicht: in dem Geheimfach war nämlich nur ein ganz gewöhnliches englisches Buch, das ›Die chinesische Nelke‹ hieß. So genau wir's untersuchten, es war gar nichts Besonderes dran. Erst als George aus reiner Langweile so eine Viertelstunde drin geblättert hatte, ließ er plötzlich einen Pfiff hören. ›Luke‹, sagte er, ›ich will auf Lebenszeit zur Heilsarmee gehen, wenn du da nicht mal einen besonders feinen Griff getan hast‹ Und dann zeigte er mir, daß fast alle Seiten an den Rändern mit Buchstaben und Ziffern bekritzelt waren, und einige unbedruckte Blätter waren überhaupt von oben bis unten voll davon. Es war aber kein Sinn, nicht einmal ein richtiges Wort herauszubringen, und ich machte natürlich ein sehr dummes Gesicht. Aber mein Kamerad lachte mich aus. ›Luke‹, sagte er, ›du bist ein gewaltiges Schaf. Du kannst dir doch denken, daß man diesen Schmöker nicht in so einen Tresor legen würde, wenn das Geschreibsel nicht etwas sehr Wichtiges zu bedeuten hätte‹ . . .«

Der Mann machte eine spannungsvolle Pause und holte eine silberne Zigarettendose aus der Westentasche. Sie war ziemlich groß, mit einem Wappen und einem Monogramm geziert und gut gefüllt. Er war so höflich, sie zunächst seinen beiden Tischgenossen hinzuhalten, aber Peter Owen schnitt eine Grimasse und deutete mit dem Messer vielsagend auf seinen vollen Mund, und der andere schien überhaupt nicht zu rauchen, denn er winkte dankend ab. Also traf der Besitzer der gediegenen Dose für sich selbst eine umständliche Wahl, klopfte die Zigarette am Daumennagel aus und setzte sie mit Genuß in Brand.

»Sie müssen wissen«, nahm er dann seine Erzählung wieder auf, »George hatte einen feinen Kopf und auch allerlei Bildung, und wenn er es nicht mit dem Suff zu tun gehabt hätte, wäre sicher was aus ihm geworden. Er hatte auch sofort einen großartigen Einfall. Er wußte von einem vornehmen Gentleman, der sich auf solche Dinge verstand, und zu dem wollte er gehen. Man konnte ja etwas von einer Hinterlassenschaft erzählen, und daß sich die Erben nun in diesem komischen Geschreibsel nicht auskennen. Und zunächst ist alles ganz glatt gegangen. Der gewisse Gentleman hat George versprochen, daß er sich die Sache ansehen werde, und etwa in einer Woche könne mein Kamerad wiederkommen. Und er hat nicht einmal etwas für seine Bemühungen verlangt . . .«

Der Dieb beugte sich über den Tisch und ließ seine unruhigen Augen von einem zum andern gehen. »Was glauben Sie aber, daß dann geschehen ist?« fragte er und gab auch schon selbst die überraschende Antwort. »Der Gentleman ist plötzlich gestorben. Drei Tage bevor die Woche um war. George las es in der Zeitung und war wie vor den Kopf geschlagen. Zuerst wollte er sich melden, aber dann meinte er, es sei besser, wir ließen es sein. Man wußte ja nicht, was es für Fragereien geben konnte . . . Dafür hatte George eine andere Idee. Vielleicht konnten wir uns zunächst einmal nach dem gewissen Wagen umsehen und seine Besitzer benachrichtigen, daß wir etwas von dem verlorenen Buche wüßten. Wenn wirklich etwas dahinter steckte, würde der Mann sich gewiß dazu verstehen, für den Fund einen anständigen Preis zu zahlen, und dann konnte ja George das Buch immer noch holen . . .«

Der Erzähler ließ einen scheuen Blick durch den Saal gehen, denn was er weiter zu berichten hatte, erfüllte ihn in diesem Raum mit doppeltem Unbehagen. »Wir gingen also fleißig auf die Suche«, fuhr er mit etwas trockenem Hals und noch leiser als bisher fort, »aber erst nach einer Woche sahen wir den Wagen endlich eines Abends an einer Straßenkreuzung in Newington. Es nützte uns aber nicht viel, denn als wir gerade an ihn heran waren, wurde der Verkehr für seine Fahrtrichtung freigegeben, und er schoß auch schon davon. Wir konnten nur sehen, daß ein Herr mit einem buschigen dunklen Schnurrbart am Steuer saß, und dann hatten wir uns diesmal die Nummer gemerkt. Aber« – der Dieb ließ wiederum seine Augen sprechen – »damit war nichts anzufangen, denn als wir uns erkundigten, sagte man uns, daß es so eine Nummer nicht gebe. Aber wenigstens wußten wir nun, was wir von der Geschichte zu halten hatten. Wenn der Mann mit einer falschen Nummer fuhr, hatte das Buch sicher einen besonderen Wert. Wir ließen also nicht locker, und richtig hatten wir schon ein paar Tags später wieder Glück. Das heißt«, verbesserte er sich, »Glück kam man das nicht nennen, sondern es war eine verwünschte Schickung, aber das stellte sich erst später heraus. Diesmal tauchte das Auto – es war gegen halb neun und noch nicht ganz finster – plötzlich draußen in West Brompton auf, und wir sahen, wie aus dem Fenster einem vierschrötigen Kerl mit einem gelben Galgengesicht ein Zettel zugesteckt wurde. ›Mach deine Wege, ich kauf mir den Tataren‹, raunte mir George zu und war auch schon verschwunden.«

Der Dieb stieß den letzten Rauch aus und zerdrückte seine Zigarette, dann sagte er mit der geziemenden Bewegung: »Das waren die letzten Worte, die ich von meinem armen Kameraden gehört habe. Er ist nämlich in derselben Nacht hier draußen umgebracht worden; und wenn auch die Polizei aus dem Fall nicht klug geworden ist, ich kann mir die Geschichte sehr gut zusammenreimen. George ist dem Burschen bis hierher gefolgt und hat die Sache mit der ›Chinesischen Nelke‹ wahrscheinlich unvorsichtig angestellt. Aber eines Tages werde ich ihn schon rächen. Es wird diese Banditen einen gewaltigen Batzen Geld kosten, denn jetzt habe ich sie nicht nur mit dem Buch in der Hand, sondern auch noch wegen der anderen bösen Geschichte. Ich warte nur ab, ob ich nicht vielleicht durch einen Zufall etwas Näheres über sie erfahre. Deshalb wollte ich mich auch heute hier wieder einmal nach dem gelben Galgengesicht umsehen.«

Er musterte neuerlich rasch die nächste Umgebung und wurde dann ganz geheimnisvoll. »Den andern, den mit dem buschigen Schnurrbart, habe ich vor drei Tagen wieder getroffen«, flüsterte er. »Und er wird an mich denken. Ich wollte es zwar nicht tun, aber als auf einmal das Auto drei Schritte vor mir hielt und er heraussprang, dachte ich, daß er nun vielleicht mir an den Leib wollte, und habe rasch zugestochen. Mit dem Messer, das ich Ihnen draußen gegeben habe . . .«

Peter Owen hatte die ganze Zeit so eifrig genickt, wie er gekaut hatte, und nun tat sogar der Matrose, der mit schläfrigen Augen dagesessen hatte, plötzlich den Mund auf.

»Sonst war nichts in dem Wagen?« fragte er, und der Dieb setzte sein ehrlichstes Gesicht auf.

»Nein. – Das heißt, wenigstens nichts, was der Rede wert gewesen wäre«, verbesserte er sich, da es für ihn ein erhebendes Gefühl war, einmal wirklich die reine Wahrheit sagen zu können. »Bloß noch das da . . .« Er griff in die Brusttasche und brachte ein flaches Päckchen hervor, dessen bereits brüchige Hülle er vorsichtig auseinanderfaltete.

Aber kaum war ein Stückchen des feinen Leders sichtbar geworden, als Ramsay auch schon rasch zufaßte. »Für die fünf Shilling, die ich zu bekommen habe«, sagte er, indem er den Gegenstand unbesehen in der Tasche verschwinden ließ.

Peter schnitt ein enttäuschtes Gesicht, denn er hatte bereits damit gerechnet, auch diese fünf Shilling übernehmen zu können, der Dieb jedoch war mit dem Handel sehr einverstanden. Fünf Shilling waren für einen einzelnen Handschuh ein hübscher Preis, aber er hatte schon davon gehört, daß es Käuze gab, die solche Dinge sammelten. Da er jedoch einmal bei der Ehrlichkeit war und es sich um einen seiner Beschützer handelte, glaubte er, auf etwas aufmerksam machen zu müssen.

»Es sieht zwar so aus«, tuschelte er über den Tisch, »als ob das Zeug von einer Frau wäre, denn ich bringe es kaum über vier Finger, aber es gehörte sicher dem Mann mit dem Schnurrbart. Er hat eine so kleine Hand, daß man es kaum glauben sollte. Ich habe sie ganz dicht vor Augen gehabt, als ich zustieß.«

»Wohin ist es gegangen?« erkundigte sich der Matrose in seinem breiten Dialekt.

»In den linken Ballen. Von oben nach unten – durch und durch . . .« Der kleine Dieb war auf dieses Heldenstück sichtlich sehr stolz. »Es hat auch sofort eine Menge Blut gegeben und . . .«

Er brach plötzlich ab, als ob er einen Schlag auf den Mund bekommen hätte, und seine Augen blieben mit einem Ausdruck des Schreckens irgendwo in dem Qualm haften. Dann senkte er blitzschnell die Lider, zog die Schultern ein und fiel zu einem reglosen Kleiderbündel zusammen. Nur seine fahlen Lippen bewegten sich krampfhaft und es währte Sekunden, bevor er gepreßt und abgehackt die wenigen Worte hervorbrachte: »Er ist da . . . – An dem Tisch gleich rechts neben der Tür!«

Peter Owen war zwar sehr beschäftigt, verstand aber doch sofort, und da er wirklich ein Gentleman war, zögerte er nicht einen Augenblick, für das anständige Abendbrot und die fünf Shilling nun auch seine Pflicht und Schuldigkeit zu tun. Die Sache ließ sich vielleicht im Handumdrehen erledigen. Er stieß also das Messer in den zweiten Braten, der eben vor ihm stand, und machte Miene, sich den bewußten Burschen einmal etwas näher anzusehen.

Aber bevor er noch zu einem flüchtigen Blick kam, fühlte er den Fuß seines Begleiters kräftig auf dem seinen. Und wieder verstand Peter, und eigentlich war's ihm so lieber. Er hatte noch einige Bissen von dem guten Steak, und es wäre schade gewesen, wenn es kalt geworden wäre.

Für Donald Ramsay war der neue Mann im Hintergrund keine Überraschung, aber er freute sich, daß er ihn wirklich zu Gesicht bekam. So, wie er sich über die Geschichte des Diebes und über den Handschuh gefreut hatte, obwohl auch diese Dinge ihm nicht viel mehr gesagt hatten, als er bereits ahnte. Aber nun war er seiner Sache völlig sicher, und es galt nur noch, die Kette wirklich lückenlos zu schließen.


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