Louis Weinert-Wilton
Die chinesische Nelke
Louis Weinert-Wilton

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29

Die eine Sache, die er für notwendig gehalten hatte, war für Oberst Wilkins getan, aber die zweite, die noch in Fluß gebracht werden mußte, war vielleicht noch dringender.

Trotzdem hielt Wilkins auf seiner Weiterfahrt nach Bayswater bei einer Telefonzelle an, um eine Nummer anzurufen. Als diese sich meldete, murmelte er hastig zwei Worte in den Apparat und mußte nun eine ziemliche Weile warten. Er nagte krampfhaft an der Unterlippe, und in seinem Gesicht spiegelten sich unerquickliche Gedanken.

»Ja, hier der gewisse Mann«, sagte er plötzlich aufgeschreckt und horchte dann gespannt auf das, was zurückkam. Es schien seine Laune zu bessern, denn er zog die Brauen hoch, und um seinen Mund zeigte sich ein dünnes Lächeln. »Hoxton – Ecke Hoxton Street und Witmer-Gardens – heute halb elf – jawohl«, wiederholte er mit hoher Stimme und legte auch schon wieder den Hörer auf. Er ließ ihn aber nicht aus der Hand, sondern warf eine weitere Münze ein und hob sofort wieder ab.

»Sind Sie es, Sergeant Anthony?« fragte er, als er die neue Verbindung erlangt hatte. »Gut, hören Sie zu: Sie erwarten mich heute abend um zehn Hoxton, Kingsland Road, unmittelbar am Regents-Canal. Nehmen Sie den Mann mit, der das letzte Mal mit Ihnen war. Ich will mir den Glatzköpfigen ansehen. Er soll wieder eine Verabredung haben. Falls Sie seiner ansichtig werden, bevor ich an Ort und Stelle bin, so folgen Sie ihm. Aber nicht zu weit, damit wir uns nicht verfehlen; und wieder mit aller Vorsicht. Denn wenn er Lunte riecht, taucht er vielleicht spurlos unter. Also noch einmal: Um zehn Kingsland Road, Regents-Canal. Das ist alles.«

Etwa zwanzig Minuten später fuhr Oberst Wilkins durch das wappengeschmückte schmiedeeiserne Tor des prunkvollen Villenbaues in Bayswater, mit dem Lady Helen dem stolzen Namen Falconer wieder ein würdiges Dach verschafft hatte.

Die Hausherrin empfing heute nicht, aber Wilkins genoß eine Ausnahmestellung und wurde sogar überraschend herzlich aufgenommen.

»Gut, daß Sie kommen«, sagte die interessante Frau, indem sie ihm die Hand entgegenstreckte. »Ich wollte zwar einmal allein bleiben, da ich schrecklich müde bin, aber das ist kein Rezept für mich. Ich glaube nun fest daran, daß man vor Langeweile sterben kann. Und dabei ist der Tag noch kaum zur Hälfte um.« Sie war in einen tiefen Lehnstuhl beim Kamin vergraben, und das matte Licht des flackernden Feuers zeigte in ihrem Gesicht Schatten und scharfe Linien, die sonst nicht vorhanden waren.

Oberst Wilkins behielt ihre Hand in der seinen, und da sie ihm nicht entzogen wurde, preßte er plötzlich mit leidenschaftlicher Innigkeit seine Lippen auf die schlanken kühlen Finger. Aber zuviel auf einmal wollte er nicht wagen.

»Ich weiß alles«, sagte er, indem er sich wieder aufrichtete. »Sie waren in Notting Hill. Ich komme eben von Sir John.«

Lady Falconer lachte belustigt auf. »Erzählen Sie mir nichts von diesem schrecklichen Gesellen. Ich habe ihn heute bereits zur Genüge genossen. Eine Weile macht es ja Spaß, ihm zuzuhören, aber auf die Dauer wird man bei seinen Entgleisungen doch zu nervös. Sprechen wir also von etwas anderem.«

»Wovon?« fragte Wilkins hastig, und sein Ton verriet, was er wünschte und hoffte. Und diesmal kam ihm die kühle Frau halb entgegen.

»Wovon Sie wollen«, sagte sie leise und blickte dabei mit verträumten Augen ins Feuer.

Der Oberst stürzte sich wortlos wieder über ihre Hand und barg sein heißes Gesicht darin. »Warum haben Sie mich so lange gequält, Helen?« flüsterte er. »Sie müssen doch längst wissen . . .« Er legte seinen Arm um den geschmeidigen Frauenleib und versuchte, ihn an sich zu ziehen.

Lady Falconer fuhr in jähem Schreck zusammen und wehrte den stürmischen Mann mit erstaunlicher Kraft ab.

Aber ein weiterer Ausbruch der Entrüstung kam nicht. Sie deutete bloß mit einem schalkhaften Augenzwinkern auf einen lichtbraunen Knäuel, der sich in ihrem linken Arm regte, und legte warnend den Finger an die Lippen. »Psssst«, hauchte sie. »Achmed liebt es nicht, in seinen Träumen gestört zu werden. Er wird dann ungemütlich und zieht mir aus den Möbelstoffen und Gobelins Fäden heraus. Und wenn er auch die unartigen Dinge, die Sie sagen, nicht versteht«, fügte sie scherzend hinzu, »so sieht er doch ausgezeichnet und würde sich wer weiß was denken. Er ist an so komische Szenen nicht gewöhnt.«

Oberst Wilkins hatte ein etwas starres Lächeln um den zuckenden Mund und tupfte sich mit dem Taschentuch die Stirn. Er war wirklich erregt, denn in diesen Minuten ging es für ihn um sehr viel, wenn nicht um alles. Vielleicht durfte er mit dem, was er erreicht hatte, zufrieden sein, aber ganz war er seines Erfolges noch immer nicht sicher. Die seltsame Frau hatte ihm ja eben wieder einen Beweis davon gegeben, wie völlig unberechenbar sie war. Und es war fraglich, ob eine so günstige Gelegenheit so bald wiederkehre.

Lady Helen drückte die siamesische Katze, die einen Buckel machte und mit ihren blauen Porzellanaugen mißmutig um sich blinzelte, beruhigend wieder in den linken Arm und strich ihr mit der andern Hand liebkosend durch das Samtfell.

»Weil Sie ein so furchtbar betrübtes Gesicht machen«, sagte sie plötzlich, ohne den Blick zu heben, »dürfen Sie heute mit mir zu Abend speisen. Kommen Sie gegen neun. Wir werden ganz unter uns sein. Auch der ungezogene Achmed wird uns nicht stören.«

Wilkins wurde durch diese rasche und verheißungsvolle Antwort auf die bange Frage, die ihn eben beschäftigt hatte, in die größte Verwirrung versetzt. »Heute?« stammelte er und suchte verzweifelt nach einem Ausweg, um diese Gelegenheit nicht aufgeben zu müssen. Aber die andere Sache konnte er auf keinen Fall rückgängig machen. »Ich bin trostlos, Helen«, versicherte er, »heute ist es mir jedoch unmöglich. Ich habe eine äußerst wichtige dienstliche Verabredung. Sonst . . .«

Lady Falconer sah ihn so erstaunt an, daß er mit einer verzweifelten Geste verstummte. »Eine dienstliche Verabredung – so . . .«, schmollte sie. »Das ist wenig nett von Ihnen. Einmal fühle ich mich vereinsamt, einmal habe ich das Bedürfnis, mich mit einem guten Freund auszusprechen, und Sie lassen mich im Stich. Ihr Dienst muß ja schrecklich sein, wenn er Sie sogar zu einer Zeit in Anspruch nimmt, da andere Leute ihr Tagewerk längst getan haben und gemütlich in ihren vier Wänden sitzen.«

»Er ist schrecklich, jawohl«, bestätigte der Oberst lebhaft. »Aber . . . wenn . . . Sie verstehen mich, Helen, ich würde Ihnen nie zumuten, darauf Rücksicht zu nehmen. Ich bin mit Leib und Seele Soldat, ich liebe meinen Beruf – aber es gibt etwas, was mir noch weit mehr ist. Und wenn ich das erreiche, will ich das andere leichten Herzens aufgeben . . .« Er faßte wieder nach der Frauenhand, die auf der Lehne des Sessels ruhte. »Also wann, Helen?« drängte er. »Ich sehne mich ja so sehr . . . Wann?«

Lady Falconer schwieg sehr sehr lange und blickte sinnend in das Kaminfeuer. »Ich werde es mir überlegen«, sagte sie endlich, und in diesem Augenblick begann die altertümliche Bronzeuhr, die unter einem Glassturz auf dem Kaminsims stand, silberhell zu schlagen. Es war ein wundervoll ausgeführtes Kunstwerk mit niedlichen Zwergen, die die Stunden auf winzige Silberplatten hämmerten.

Als der fünfzehnte Schlag verklungen war, sah der Oberst kopfschüttelnd auf seine Taschenuhr. »Anscheinend eine Vierundzwanzigstunden Uhr«, sagte er. »Aber keinesfalls geht sie richtig. Wir haben erst einige Minuten vor halb drei.«

Lady Falconer lachte. »Nein, sie geht nur, wann sie will, und niemals richtig. Und mit dem Vierundzwanzigstundentag nehmen es meine fleißigen Zwerge auch nicht zu genau. Manchmal geraten sie in Eifer und klopfen auch bis dreißig und noch mehr. Aber Ihre Stunde hat jedenfalls geschlagen, Wilkins.«


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