Louis Weinert-Wilton
Die chinesische Nelke
Louis Weinert-Wilton

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11

Die Weihnachtsessen im Piccadilly hatten ihre große Überlieferung und ihr sozusagen ererbtes Publikum. Sie zählten zu den feststehenden gesellschaftlichen Ereignissen des Jahres, und die verrunzelte klapprige Lady, die heute im Kreis ihrer erwachsenen Enkelkinder hier speiste, hatte seinerzeit bei demselben Anlaß in denselben Räumen stolz ihr erstes Abendkleid getragen.

Dieser vornehmen Tradition und den vornehmen Gästen entsprach auch die Aufmachung. Der langgestreckte Speisesaal und seine Nebenräume waren in einen Wintergarten umgewandelt, und das schlichte, satte Grün benahm dem Prunk seine Kälte. Alles war auf anheimelnde Behaglichkeit abgestimmt, um diesem Dinner sein besonderes Gepräge zu wahren. Es sollte keine steife öffentliche Festtafel, sondern ein stimmungsvolles großes Familienessen sein, und dieser Eindruck sollte so wenig wie möglich gestört werden. Darauf hatte man vor allem bei der Anordnung der Tische Bedacht genommen, die in weiten Zwischenräumen und in gemütlicher Unregelmäßigkeit gruppiert waren, so daß die einzelnen Gesellschaften sich völlig unter sich fühlen konnten.

Bereits kurz nach halb acht begann vor dem strahlend erleuchteten und von betreßten Bediensteten flankierten Portal die Auffahrt der Wagen. Sie bildete ein Schauspiel für sich, und die aufgebotenen Verkehrspolizisten hatten gehörig zu schaffen, um die immer mehr anwachsende Schlange in Form und Bewegung zu halten.

Donald Ramsay hatte nicht den Ehrgeiz, inmitten dieser Auslese von Luxuswagen mit seinem bescheidenen Taxi vorzufahren, und ersparte dadurch eine Menge Zeit. Immerhin kam er aber im Garderoberaum bereits in ein arges Gedränge, und es währte ziemlich lange, bis er endlich ablegen und sich dann zu einem der großen Wandspiegel durchdrücken konnte, um Frack und Weste ordentlich in Sitz zu bringen.

Ramsay aber sah weder nach rechts noch nach links. In dem kurzen Verbindungsgang zum Speisesaal gab es immer wieder eine Stauung, und Ramsay konnte nur Schritt für Schritt vorwärtskommen. Anders der gedrungene Mann mit den breiten Schultern, dem knochigen gelben Gesicht und dem strähnigen schwarzen Haar, der ihm plötzlich entgegenkam. Der seltsame Dinnergast bahnte sich seinen Weg mit rücksichtsloser Härte und schien seine Eile als genügende Entschuldigung anzusehen.

Ramsay ahnte, was dieses Gehaben bezweckte. Er erfaßte genau den Augenblick, da die kräftige Schulter des andern eben seine linke Brustseite treffen sollte, und wich mit einer leichten Wendung aus. Der Eilige aber hatte so sicher damit gerechnet, bei seinem wuchtigen Anprall einen Halt zu finden, daß er ins Stolpern geriet und mit dem runden Schädel an die Wand geschlagen wäre, wenn Ramsay nicht auch schon hilfreich zugefaßt hätte. Seine Rechte fuhr den Fallenden blitzschnell zwischen Nacken und Kragen und brachte ihn mit einem einzigen Ruck wieder auf die Beine.

Die Hilfeleistung war ziemlich unsanft geraten; der Mann war völlig außer Atem und sah arg zerknittert aus. Der Blick seiner tiefliegenden tückischen Augen verriet auch keineswegs Dankbarkeit, sondern mühsam beherrschte Wut, aber der harmlos lächelnde Gentleman mit der chinesischen Nelke wurde dadurch nur noch heiterer gestimmt. Und in seiner guten Laune, und weil der andere in ihm verschiedene Erinnerungen weckte, ließ er sich zu einer Bemerkung bewegen die zwar etwas unverständlich, aber von außerordentlicher Wirkung war.

»Falls Sie es einmal mit Hsu Tien-Yun zu tun bekommen sollten«, sagte er mit freundlichem Nicken, »werden Sie finden, daß ich ihm den Griff ganz brav abgeguckt habe.«

Es schien, als ob der fahle Mann neuerlich den Boden unter den Füßen verlieren würde, aber Ramsay kümmerte sich nicht weiter um ihn. Er war zufrieden, daß er wenigstens etwas von der chinesischen Nelke zu sehen bekommen hatte – obwohl er noch nicht ahnte, was diese Kenntnis für ihn bedeuten sollte.


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