Louis Weinert-Wilton
Die chinesische Nelke
Louis Weinert-Wilton

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42

Die sanfte Mrs. Machennan war um diese Zeit fast schon an ihrem Ziel angelangt. Sie hatte nach der kurzen Unterhaltung mit ihrem liebenswürdigen Mieter mit großer Sorgfalt Toilette gemacht und sich dabei besonders lange mit einem höchst sonderbaren Armband aufgehalten, das sie um den linken Unterarm legte. Dann hatte sie den neuen Hut aufgesetzt und den neuen Pelzmantel umgenommen und sich mit einem befriedigten Lächeln fast eine Viertelstunde vor dem hohen Spiegel gedreht. Sie sah wirklich sehr vornehm und hübsch aus, und sogar Pheny bestätigte das, indem sie mit einem bewundernden »Kchchch« den großen Mund aufriß, um ihn nicht mehr zuzumachen.

Mrs. Machennan fand es notwendig, ihrer kräftigen Stütze bei dieser Gelegenheit nochmals verschiedene Dinge einzuschärfen. »Ich werde kaum vor zweieinhalb bis drei Stunden zurück sein«, sagte sie. »Sperren Sie also hinter mir gut ab und lassen Sie niemanden ins Haus, der nicht dreimal klingelt. Ich habe es Ihnen ja oft genug vorgemacht. Sollte sonst jemand kommen, so sagen Sie ihm draußen auf den Stufen, es sei niemand zu Hause. Aber sehen Sie sich vor, denn es gibt eine Menge schlechter Leute.« Mrs. Machennan bestaubte mit der Puderquaste leicht die zierliche Nase, und dann setzte sie hinzu: »Wenn es nötig sein sollte, schlagen Sie nur unters Kinn, damit Sie dem Mann keinen zu argen Schaden zufügen. Falls aber Mr. Ramsay nach Hause kommt, vergessen Sie nicht den Knicks, und wenn er etwas wünscht, zeigen Sie sich anstellig. Nachdem ich mir so viel Mühe mit Ihnen gegeben habe, dürfen Sie mir keine Schande machen.«

»Kchchch . . .« hatte Pheny unter heftigem Nicken versichert, und Mrs. Machennan war beruhigt ihres Weges gegangen.

Sie trippelte graziös auf die Westminster-Brücke zu, hatte einen rührend sanften Ausdruck in ihrem hübschen Gesicht und hielt die Augen schüchtern zu Boden gerichtet.

Das hinderte sie jedoch nicht, die zwei Männer, die plötzlich kurz vor ihr auf der anderen Seite um eine Ecke kamen, noch in derselben Sekunde wahrzunehmen. Aber ihre Schritte blieben gleichmäßig graziös und gleichmäßig eilig.

Der abgebrühte Simonow bekundete weit weniger Selbstbeherrschung. Es gab ihm einen förmlichen Riß, und dann faßte er das Handgelenk seines Begleiters mit einem so kräftigen Druck, daß der andere erschreckt anhielt. Aber Simonow zog ihn weiter.

»Das ist das Frauenzimmer, das ich suche«, zischte er ihm zu, indem er rasch einen vorsichtigen Blick über die Schulter warf. »Sobald sich's machen läßt, müssen wir hinter ihr her. Vielleicht bekommen wir endlich heraus, wo sie wohnt. Oder sie läuft uns so geschickt in die Arme, daß wir sie einfach aufladen können. Das wird sich zeigen.« Er äugte wieder rückwärts, und da die Frau ruhig ihren Weg fortsetzte, glaubte er, die Verfolgung sofort aufnehmen zu können. »Los!« wies er seinen Begleiter an. »Du mußt nicht allzu vorsichtig sein, denn dich kennt sie ja nicht. Ich halte mich immer zehn Schritte hinter dir auf der anderen Seite.«

Simonow war sehr aufgeregt, und er hatte auch allen Grund dazu. In seinem ganzen recht bewegten Leben hatte er noch nie eine derartige Pechsträhne über sich ergehen lassen müssen, wie in den letzten Tagen. Das hagelte nur so auf ihn herab, so daß man es fast mit der Furcht zu tun bekommen konnte. Und gerade mit diesem Frauenzimmer, das wie eine Puppe auf Rädern vor ihnen herlief, hatte es angefangen. So etwas hatte ihn wahrhaftig mit einem einzigen Hieb in den Dreck gelegt, daß ihm seine fünf Sinne für eine ganze Weile abhanden gekommen waren. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Und all das andere auch nicht: er hätte jeden Eid darauf geschworen, daß der Mann mit der Nelke erledigt war – er hatte das Mädchen draußen in Notting Hill schon so gut wie sicher gehabt und ebenso die drei Diebsgesellen in der verflossenen Nacht – aber dann war im letzten Augenblick immer etwas Unerklärliches geschehen, und seine feine Arbeit war umsonst gewesen. Als gerecht denkender Mann wunderte er sich eigentlich, daß der Chef nicht schon die Geduld verloren hatte. Bei dem ersten und zweiten Fall hatte es zwar einen gehörigen Rüffel abgesetzt, aber der Bericht über den gestrigen neuerlichen Fehlschlag im Dockwinkel und die nächtliche Schießerei war sonderbarerweise sehr glimpflich abgelaufen. Wahrscheinlich sah der Boß ein, daß ihn wirklich keine Schuld traf. Etwas blieb jedoch immer auf einem sitzen, und Simonow hatte daher das dringende Verlangen, die verdammten Scharten der letzten Tage schleunigst irgendwie auszuwetzen. Er war überzeugt, daß die Frau vor ihnen bei der Geschichte, um die es ging, eine wichtige Rolle spielte, und wenn man sich an sie hielt, konnte man vielleicht endlich an das gefährliche Wespennest herankommen, das schon so viel zu schaffen gegeben hatte. Er hatte mit dieser heimtückischen Katze eine persönliche Rechnung zu begleichen, und wenn sie ihm in die Hände geriet, wollte er das gründlich besorgen. Die verschwiegene Kemenate draußen in Camberwell war dazu wie geschaffen.

Die sanfte Mrs. Machennan trippelte inzwischen ahnungslos weiter. Erst jenseits der Westminster-Brücke blieb sie plötzlich stehen und unterhandelte in ihrer freundlichen Art mit einem Taxichauffeur.

Simonow setzte sich in Trab und riß seinen Genossen mit sich fort. Nun hieß es sich eilen und die Augen offenhalten, damit die Person ihnen nicht am Ende doch noch entwischte.

Zur größten Erleichterung des vor Aufregung fiebernden Mannes ging alles glatt. Sie waren blitzschnell in ein anderes Taxi geschlüpft, und Simonow dirigierte den Fahrer. Glücklicherweise hatte es der erste Wagen nicht zu eilig, denn das hatte sich die ängstliche Mrs. Machennan ausdrücklich verbeten. Sie konnte ohne sonderliche Erschütterungen noch etwas Puder auflegen und die Konturen ihres kleinen Mundes mit Rot nachziehen. Als sie damit fertig war, klappte sie die Dose zu, und während sie sie wieder in der Handtasche versorgte, warf sie einen halben Blick durch das rückwärtige Fenster und lächelte unendlich sanft.

Die Fahrt endete in Bayswater vor einem gediegenen Gittertor, und als ein betreßter Pförtner erschien, übergab ihm Mrs. Machennan mit einem bezwingenden Lächeln eine Besuchskarte und einen Brief. Auf der Karte stand ›Mrs. Helen Barlow‹, und der mit einem wappengeschmückten Siegel verschlossene Brief war an Lady Helen Falconer gerichtet.

Dann lohnte Mrs. Machennan das Taxi ab, denn sie war eine sparsame Frau.


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