Louis Weinert-Wilton
Die chinesische Nelke
Louis Weinert-Wilton

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30

Maud Hogarth war mit ihrem Zweisitzer pünktlich um drei Uhr von Notting Hill abgefahren und hatte bereits Richmond vor sich, ohne daß sie bisher von dem Mann mit der chinesischen Nelke auch nur die geringste Spur hätte entdecken können. Mittlerweile war der frühe Winterabend hereingebrochen, der die Beobachtung erschwerte, und sie begann zu überlegen, was sie tun sollte, wenn dieser Donald Ramsay, wie er sich nannte, nicht innerhalb der nächsten Viertelstunde auftauchte . . .

Plötzlich riß diese Gedankenkette unvermittelt ab, denn vor den Scheinwerfern reckte sich eine hohe Gestalt auf und hatte sich auch schon auf das Trittbrett geschwungen.

»Bitte, fahren Sie im gleichen Tempo weiter«, sagte die angenehme Stimme, die das junge Mädchen seit der verflossenen Nacht im Ohr hatte. »Biegen Sie in die erste Straße links.«

Maud hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden zu seltsame Dinge erlebt, um über diese Art ihres Verbündeten noch befremdet zu sein. Sie tat genau, wie ihr geheißen worden war, und überlegte auch nicht einen Augenblick, als der Mann auf dem Trittbrett nach einer kurzen Strecke den Wagen in die Einfahrt eines abgelegenen Hauses dirigierte. Erst als sich ein kleiner, hell erleuchteter Raum mit einem sauber gedeckten Teetisch vor ihr auftat, stockte ihr der Fuß sekundenlang, doch nun begann ihr bisher wenig unterhaltender Verbündeter zu sprechen.

»Sie müssen entschuldigen, Miss Hogarth«, sagte er unbefangen, »aber ich konnte in der Eile nichts Besseres finden. Die großen Restaurants sind zu belebt, und hier ist man eigentlich nur auf Sommerbetrieb eingerichtet. Aber wenigstens sitzen wir im Warmen und können völlig ungestört plaudern.« Und bevor Maud noch Einspruch erheben konnte, nahm er ihr bereits den Pelz ab und suchte an den Wänden nach einer Klingel.

Maud Hogarth hatte sich über die äußeren Umstände, unter denen diese zweite Begegnung vor sich gehen würde, keinerlei Vorstellungen gemacht; aber wenn sie es getan hätte, wäre sie unbedingt nie auf den Gedanken verfallen, daß man ihr einen derart intimen Rahmen zumuten würde. Sie fand dieses Arrangement taktlos, und es erweckte in ihr mit einem Mal wieder ein gewisses Mißtrauen, das sie unwillkürlich nach dem Bügel ihrer Handtasche greifen ließ.

Ramsay, der eben den Klingelknopf entdeckt hatte, ließ ein leises Lachen hören. »Ich freue mich, daß Sie für alle Fälle gerüstet sind, aber selbst die verläßlichste Waffe ist in einer Damenhandtasche nicht viel wert. Es dauert zu lange, bis man sie unter den vielen anderen Kleinigkeiten herauskramt. Wenn Sie es also für notwendig halten, legen Sie den Browning lieber neben Ihr Gedeck. Sie haben ihn dann wirklich sofort bei der Hand, und als Tischschmuck wird er sich sehr gut ausnehmen.«

Maud war betroffen von dem scharfen Blick und verletzt über den Spott, aber es schien ihr am zweckmäßigsten, die Bemerkung einfach zu übergehen. Sie öffnete gelassen die Tasche, nahm die Puderdose heraus und ergab sich dann jener umständlichen Beschäftigung, die den Frauen immer über derartige Augenblicke hinweghelfen muß.

Ihr Begleiter war so diskret, indessen an das einzige Fenster des Raumes zu treten, vor den der Garten in tiefem Dunkel lag. Man hatte in der Eile vergessen, die Laden vorzulegen, und es schien, als ob der Gast dies nun nachholen wollte. Er streckte bereits die Hand aus, um den Riegel zu öffnen, stand aber dann von diesem Vorhaben ab.

Zum ersten Male hatte Maud Gelegenheit, den Mann mit der chinesischen Nelke eingehender zu betrachten. Sie tat es verstohlen, aber mit kritischen Augen und großer Gründlichkeit. Sie mußte zugeben, daß er eine sympathische Erscheinung war, aber das Gesicht hatte etwas Hochmütiges. Sie hielt es für geraten, sich gegen diese Neigung zur Überheblichkeit, die sie ja bereits zu fühlen bekommen hatte, zu wappnen, und entschied sich zunächst einmal wieder für die böse Falte zwischen den Brauen, die sie seit den überraschenden Begebenheiten der verflossenen Nacht ganz unbewußt abgelegt hatte.

Aber sie erzielte damit wenig Eindruck. Nachdem die freundliche Wirtin in eigener Person den Tee serviert und sich in so zuvorkommender Eile wieder zurückgezogen hatte, daß das empörte junge Mädchen ihr am liebsten nachgestürzt wäre, sagte dieser Donald Ramsay in seiner bestimmten Art und ein bißchen von oben herab:

»Wenn es Ihnen recht ist, Miss Hogarth, können wir uns nun über Ihre Erlebnisse am heutigen Vormittag unterhalten.«

Maud empfand über diese Sachlichkeit zwar einige Beruhigung, aber der Ton paßte ihr nicht. »Ich habe Sie bereits darauf aufmerksam gemacht, daß gar nichts Besonderes vorgefallen ist«, erwiderte sie mit einer Schärfe, zu der eigentlich keine Veranlassung gegeben war. »Sie hätten sich daher wirklich nicht zu bemühen brauchen. Ich wollte Ihnen dies auch ausdrücklich sagen, aber Sie hatten schon angehängt.« Sie rührte heftig in ihrer Tasse, denn die grauen Augen, die in starrer Ruhe auf ihr hafteten, machten sie nervös. »Das einzige, was ich Ihnen vielleicht mitteilen muß«, fuhr sie endlich stockend fort, »ist, daß Lady Falconer gestern Ihr auffallendes Benehmen bemerkt hat. Sie hat ganz offen davon gesprochen, und um der Sache einen harmlosen Anstrich zu geben, habe ich erklärt, Sie seien ein Bekannter. Schließlich habe ich ja damit keine Unwahrheit gesagt«, glaubte sie hinzufügen zu müssen. »Es wäre mir furchtbar peinlich gewesen, wenn die boshafte Frau diese Beobachtung in ihrer Art ausgedeutet hätte.«

»Großartig«, bekam Maud zu ihrer Verwunderung zu hören. »Das wäre also das eine. Aber es wird wohl am besten sein, wir beginnen von vorne; das heißt, mit dem Erscheinen der Lady Falconer, denn die übrigen Leute, die da waren, sind nicht interessant. Von der Lady und von Admiral Sheridan können Sie mir dafür nicht genug erzählen; selbst Kleinigkeiten, die Ihnen vielleicht völlig belanglos erscheinen mögen. Also bitte . . .«

Maud begriff das alles nicht, aber es war ihr sehr willkommen, daß das Gespräch dadurch in so unverfängliche Bahnen gelenkt werden sollte. Sie konnte es sich jedoch nicht versagen, die große Wichtigkeit, die ihr Verbündeter selbst den kleinsten Einzelheiten beimaß, sofort ein bißchen ins Lächerliche zu ziehen. »Also«, spöttelte sie, »Lady Falconer erschien, um so genau zu sein, wie Sie es wünschen, in einem braunen Kostüm mit Nerzbesatz und ebensolchem Muff . . .«

»Großartig!« äußerte Donald Ramsay mit großer Lebhaftigkeit zum zweiten Male und stellte dann eine geradezu komische Frage: »Was machte Lady Helen mit dem Muff?«

»Sie behielt ihn an der Hand«, erwiderte Maud verdutzt.

»An welcher?«

»Ich glaube . . .« – diesmal mußte Maud eine kleine Weile überlegen – »an der linken. Aber warum wollen Sie das alles wissen?«

Ihr Verbündeter überhörte die Frage und wollte sogar noch mehr wissen. Sie nahm also ihren Bericht wieder auf, und er folgte so gespannt und aufmerksam, daß er sofort merkte, wenn sich irgendwo auch nur die winzigste Lücke ergab. Dann stellte er ein förmliches Verhör an und ruhte nicht, bis sich das junge Mädchen jedes Wortes, das gesprochen worden war, und sogar dieses und jenes völlig nebensächlichen Umstandes glücklich erinnert hatte.

Aber endlich hatte Maud wirklich gar nichts mehr zu sagen und blickte den nachdenklichen Mann an ihrer Seite erwartungsvoll an.

»Großartig!« hörte sie ihn wieder halblaut vor sich hinmurmeln, und diese abgedroschene Einsilbigkeit reizte sie.

»Sie scheinen ja einfach alles ›großartig‹ zu finden.«

»Ja, einfach alles«, gab er ernsthaft zu. »Daß Lady Falconer gekommen ist – daß sie einen Muff hatte – daß sie sich meiner erinnert hat – daß Ihr Oheim am Morgen seines Todes Sheridan so ungeduldig zu sprechen wünschte – und daß die Lady nun davon weiß . . .«

Donald Ramsay war immer leiser und schleppender geworden, und plötzlich kam es Maud vor, als ob jeder Muskel seines Körpers wie zum Sprunge angespannt wäre . . .

Sie fuhr unwillkürlich halb von ihrem Sitz auf – aber noch in der gleichen Sekunde wurde sie von einem starken Arm so unsanft zur Seite geschleudert, daß sie haltlos zu Boden taumelte. Sie hörte, wie ein Stuhl polterte, irgendwo draußen mehrere Schläge hallten, wie Glas splitterte und irgend etwas an die Wände des Zimmers klatschte, das auf einmal in tiefem Dunkel lag . . .


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