Louis Weinert-Wilton
Die chinesische Nelke
Louis Weinert-Wilton

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49

Der Motorradfahrer, der dem Zweisitzer folgen sollte, hatte zunächst keine schwierige Aufgabe. Der Wagen fuhr kein schnelles Tempo, schlug auch keine überraschenden Haken und hielt bereits einige Straßen weiter wieder an. Es wurde ein ziemlich langer Aufenthalt ohne ersichtlichen Grund, und als der Mann sich vorsichtig heranmachte, um zu sehen, was eigentlich los sei, entdeckte er, daß das kleine Auto leer war. Erst nach weiteren fünf Minuten tauchte plötzlich eine eilige Gestalt auf, die sich in den Wagen schwang und auch schon davonfuhr. Der Beobachter hatte nicht viel mehr wahrnehmen können, als einen Herrenpelz und einen Herrenhut, denn die Sache war zu rasch gegangen. Jedenfalls hatte aber der Lenker gewechselt, denn von Notting Hill und dann auch noch von Bayswater bis zur Edgware Road hatte ja eine Dame am Steuer gesessen. Das hatte er genau gesehen, nur auf dem letzten Stück des Weges hatte er sich nicht darum gekümmert.

Eine Viertelstunde später aber wurde der Mann völlig verwirrt. Der Zweisitzer hatte in Hoxton neuerlich gestoppt, und auch der Verfolger war rasch von seinem Rad gesprungen, jedoch bereits zu spät gekommen. Der Wagen, der vor einem alten Haus mit zahlreichen Geschäftsschildern hielt, war wieder leer, und der Mann beschloß, nun recht scharf hinzuschauen, wenn der Fahrer wieder zurückkehrte. Vielleicht war dies von Wichtigkeit.

Er faßte also in der Nähe des kleinen Autos Posten, hatte aber noch keine Minute dort gestanden, als er plötzlich zu seiner Überraschung in ein bekanntes, höchst gelangweiltes Gesicht blickte.

»Haben Sie vielleicht den Herrn gesehen, der eben hier ausgestiegen ist?« fragt er hastig.

Brook streifte ihn mit einem verwunderten und nicht gerade schmeichelhaften Blick. »Wo haben Sie Ihre Augen?« gab er im Vorüberschlendern leise zurück. »Das war doch eine Dame. Ich weiß sogar auch wer, denn wenn sie auch verschleiert war, kenne ich doch den Mantel und den Hut ganz genau . . .«

Er ließ den andern verdutzt stehen, denn dieser hätte jeden Eid darauf geleistet, daß er einem Mann gefolgt war.

Aber Brook hatte recht, es war tatsächlich eine Frau gewesen. Sie befand sich bereits im zweiten Stockwerk und bog eben in einen düsteren Gang ein, der durch einen Glasverschlag abgeschlossen war. Durch die matten Scheiben drang nur ein schwacher Lichtschein und auf dem Türschild war zu lesen: »Rechtsanwalt William Gardner.«

 

Mr. Gardner befand sich seit vierundzwanzig Stunden in äußerst unbehaglicher Stimmung. Man hatte ihn am verflossenen Abend telefonisch wissen lassen, daß nun wirklich ein günstiger Augenblick gekommen sei, um die Sache mit Maud Hogarth wieder aufzunehmen, und man hatte ihm sogar den Brief, den er deshalb schreiben sollte, Wort für Wort vorgesprochen. Dann waren ihm – ohne nähere Erklärung – auch noch einige recht rätselhaft klingende Bemerkungen diktiert worden, mit denen er dem jungen Mädchen zusetzen sollte, und zum Schlusse erhielt er die Anweisung, die Kopie des Briefes auf seinem Schreibtisch bereitzulegen.

Der Anwalt hatte getan, was ihm geheißen worden, war, aber die bevorstehende Unterredung bereitete ihm arges Bangen. Er wußte nur zu gut, wie hart und entschlossen seine Klientin sein konnte, und ihre letzten Worte: »Das nächste Mal werde ich wahrscheinlich wirklich das tun, wessen man mich das erste Mal beschuldigte«, waren keine angenehme Einleitung zu der neuerlichen Unterhaltung. Dazu hatte er auch noch die andere Stimme im Ohr, die mit so eigenartiger Betonung gesagt hatte: »Ich erwarte, daß Sie es geschickter anstellen werden als der Mann, der den ersten Versuch unternommen hat . . .« Was würde geschehen, wenn er auch diesmal keinen Erfolg hatte?

Die Vermutungen, die sich ihm dabei aufdrängten, waren so beklemmend, daß sich Gardner immer mehr an eine einzige Hoffnung klammerte: an die Hoffnung, daß seine Klientin der Einladung nicht Folge leisten werde. Dann war er der gefährlichen Aufgabe wenigstens für den einen oder den anderen Tag wieder entronnen, und vielleicht lagen dann die Verhältnisse nicht mehr so günstig, daß man auf dieser Unterredung bestand.

Diese Hoffnung des erregten Anwalts stieg mit jeder Minute, die der langsame Zeiger seiner Schreibtischuhr vorrückte. Er wies bereits auf drei Viertel sieben. So lange würde Miss Hogarth gewiß nicht auf sich warten lassen, wenn sie kommen wollte. Er hatte zwar geschrieben ›nach sechs‹, aber das hieß doch höchstens eine Viertel-, oder allerhöchstens eine halbe Stunde später. Und nun waren es fast schon fünfzig Minuten nach dieser Zeit . . .

Gardner fühlte sich bereits so erleichtert, daß er nach einer Zigarette griff und sie in Brand setzte. Nach sieben würde er das ›Grüne Hofzimmer‹ im Klub der Globetrotter anrufen und berichten. Diesmal konnte ihn nicht der leiseste Vorwurf treffen . . .

Er hob mit einem Ruck lauschend den Kopf, und die Hand, die rasch die Zigarette ablegte, zitterte. Die Tür des Zimmers zum Vorraum stand offen, und es war ihm, als ob er auf dem Gang leichte flüchtige Schritte vernommen hätte.

Und nun schlug auch schon die Klingel kurz an.

Gardner sprang mit fahlem Gesicht auf und stürzte zur Glastür.

Die Dame schlüpfte herein, und er schloß hastig ab.

»Oh«, sagte er mit trockenem Hals, indem er sich umwandte, »ich hatte bereits . . .«

Weiter kam er nicht. Eine Hand stieß blitzschnell gegen seine Brust, und der Anwalt warf die Arme in die Luft und polterte mit einem dumpfen Röcheln zu Boden.

 

Genau acht Minuten, nachdem die Dame das Haus betreten hatte, erschien sie wieder, schlüpfte in den Zweisitzer und fuhr davon.

Der Mann mit dem Motorrad konnte sich nun selbst überzeugen, daß er sich getäuscht hatte, aber die Sache blieb ihm ein Rätsel. Und die folgende Stunde sollte ihn noch vor einige weitere stellen. Zunächst jedoch erschrak er, weil er den Wagen in dem winkligen Straßengewirr der City plötzlich aus den Augen verlor. Aber nach einer kurzen aufgeregten Kreuzundquerfahrt entdeckte er ihn glücklich wieder mit abgestelltem Motor, und es war wie das erste Mal. Der Wagen war leer, und nach einer Viertelstunde kam keine Frau, sondern wiederum ein Mann, setzte sich ans Steuer und fuhr in Richtung Themseviertel.

Diesmal hatte der Motorradfahrer alle seine Sinne angespannt und wußte bestimmt, daß er sich nicht getäuscht hatte. Er hatte also auch das erste Mal unbedingt richtig gesehen, wenn er sich auch nicht erklären konnte, wieso dann plötzlich eine Dame ausgestiegen war. Er hatte die Figur und den Pelz des Herrn noch deutlich in Erinnerung, daß er sich darüber klar war, nun einen andern vor sich zu haben. Der Mann, der jetzt den Zweisitzer lenkte, war etwas größer und breitschultriger als der erste, aber es würde sich ja zeigen, ob er sich am Ende nicht auch in ein Frauenzimmer verwandelte.

Das geschah zwar nicht, doch ereignete sich etwas anderes, was den Verfolger in noch größere Verwirrung versetzen sollte. Es gab nun keinen Aufenthalt mehr, sondern das Auto lief schnurgerade die Commercial Road hinunter, und der Nebel war hier so dick, daß der Mann auf dem Motorrad es wagen durfte, sich ganz knapp hinter dem Wagen zu halten.

Erst nahe dem Regent's Canal Dock bog der Lenker des Zweisitzers plötzlich scharf nach rechts ab und steuerte auf einem holprigen, etwas eingeschnittenen Weg der Themse zu. Der andere stoppte nach einer kurzen Strecke verwundert, denn er kannte die Gegend genau und wußte, daß es hier zum Wasser ging. Dort lagen vom Frühjahr bis zum Herbst immer die großen Kähne mit Sand und Schotter, und die schweren Fuhrwerke, die dieses Material abführten, hatten in den weichen Boden tiefe Rinnen gegraben. Was konnte der Mann hier wollen?

Bis zum Ufer mochten es nur mehr ungefähr zweihundert Schritte sein, und wenn er nachfuhr, mußte man auf ihn aufmerksam werden. Er zog es also vor, sein Rad abzustellen und vorsichtig weiter zu schleichen. Entwischen konnte ihm ja der Wagen hier auf keinen Fall . . .

Der neugierige Mann hatte noch keine zehn Schritte getan, als von vorn ein heftiges Knattern, Poltern und Krachen kam, und fast im gleichen Augenblick war ein mächtiges Aufbrausen des Wassers zu hören.

Er stürzte mit großen Sätzen dem Lärm nach und hielt erst inne, als er auf dem steinigen Strand zu stolpern begann. Wenige Yard vor ihm rauschte bereits die Flut, aber von dem Zweisitzer war nichts zu sehen. Er mußte irgendwo draußen in der dampfenden Finsternis liegen . . .

Der Mann hastete zu seinem Rad zurück, schwang sich hinauf und ratterte in rasender Fahrt davon. Bei der ersten Polizeistreife, der er begegnete, verhielt er einen Augenblick.


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