Louis Weinert-Wilton
Die chinesische Nelke
Louis Weinert-Wilton

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52

Peter Owen drückte sich mit dem gewissen alten Bekannten, der ein großes Tier geworden war, auf dem Cadogan Pier herum und sprach sich den nagendsten Groll seines Lebens von der Seele.

»Mit dem Kochlöffel!« zischte er. »Hat man so was schon gehört? Und sie hat ihn richtig mit dem ersten Griff erwischt. Dabei war er noch ganz frisch und bestimmt einen guten halben Finger lang.«

Er spritzte aus dem Mundwinkel einen braunen Strahl in den Nebel, und hinter dem Tabaksaft kam ein ellenlanger Fluch.

Brook hörte diesem Erguß schweigend, aber mit großem Interesse zu. Welch eine Frau! Er kam gerade aus dem Haus bei der Westminster Brücke, und die sanfte Mrs. Machennan beschäftigte ihn fast noch mehr, als die hundert Pfund, mit denen es nun Ernst zu werden schien. Er hatte Mr. Ramsay gerade nur seine allerwichtigsten Beobachtungen in Hoxton melden können, denn während seines Berichts war einige Male die Turteltaube ins Zimmer geschlüpft und hatte dem Gentleman einige Worte ins Ohr geraunt, worauf dieser immer auf den Fußspitzen in den Korridor geeilt war. Mrs. Machennan hatte mit der feinen weißen Haube und der blütenweißen Schürze noch netter und sanfter ausgesehen als sonst, und in Brook war bei den halb freundlichen, halb vorwurfsvollen Blicken, mit denen sie ihn gestreift hatte, ein verlockender Gedanke immer lebendiger geworden: wenn er in den nächsten Tagen die hundert Pfund wirklich bekam, dann waren es gerade zweitausendachthundert, die er sich als sparsamer Mann bereits beiseite gelegt hatte; und da Mrs. Machennan eine Schottin war, würdet es bei ihr vielleicht sogar noch mehr sein. Wenn man das alles zusammenlegte . . .

Gerade als Brooks wundervolle Träume ihren Höhepunkt erreichten, tauchte Donald Ramsay auf und bekundete sehr große Eile.

»Wir wollen uns also nun den ganzen Bau einmal gründlich von außen besehen«, sagte er. »Sie, Brook, nehmen die Front am Themseufer, Owen die Straße rechts und ich jene links. Achten Sie auf alle Zugänge, und, wenn es möglich ist, interessieren Sie sich auch dafür, wohin diese führen. Schlag zehn treffen wir uns wieder an dieser Stelle.«

Peter Owen bekundete durch einen energischen Spritzer aus dem Mundwinkel, daß er verstanden hatte, und dann setzten sie sich in Bewegung.

Aber bloß Ramsay war es vorbehalten, eine Entdeckung zu machen. Er hatte an seiner Straßenfront, die unregelmäßig vor- und zurücksprang, bereits zwei Einfahrten und drei Tore festgestellt, als er zu der halb offen stehenden Pforte eines schmalen, nach seiner ganzen Bauart uralten Hauses kam, das man wohl nur als Bindeglied mit in den Klubkomplex einbezogen hatte. Wenigstens deutete der einheitliche Anstrich darauf hin, daß es mit dazu gehörte. Es hatte lediglich ein Stockwerk, und das Erdgeschoß war ganz von der Einfahrt und den Lagernischen zu deren beiden Seiten eingenommen. Dahinter lag ein kleiner Hof, an dessen Ende eine Betonmauer bis zur Höhe der beiden weit ansehnlicheren Nachbarhäuser emporstieg. Es gab dort außer einigen aufgestapelten Kisten und Fässern nichts zu sehen, und das Auffallende an dem Gebäude war nur, daß man es trotz seiner Wertlosigkeit und Unverwendbarkeit so unberührt stehen gelassen hatte, während an den übrigen Objekten, die nach und nach hinzugekauft worden waren, mehr oder weniger herumgemodelt worden war. Das mußte seine Gründe haben, und Ramsay beschloß, der Sache ein bißchen nachzugehen. Einen Pförtner schien es ja hier nicht zu geben, wenn nicht etwa im Hof eine Aufsicht war. Aber der Hofraum lag völlig dunkel und hatte zu beiden Seiten bloß überdachte Gänge, die bis zu der Betonmauer führten.

Ramsay tastete sich in einem derselben vorsichtig weiter und hielt neugierig Umschau. Es gab hier nirgends einen Zugang, und auch die abschließende Mauer im Hintergrund hatte weder Tür noch Fenster. Wenn eine Verbindung mit den übrigen Klubgebäuden bestand, mußte sie vorn im ersten Stockwerk oder hinter der massiven Betonwand sein, die sogar noch ein Stück über die Dächer der Nachbarhäuser hinausragte. Diese Mauer war ein seltsamer Bau, über dessen Zweck man sich nicht recht klar werden konnte, und Ramsay schenkte ihm ganz besondere Aufmerksamkeit. Einer mehrere Stockwerke hohen Verbindung hätte man doch gewiß Tageslicht gegeben, und ein Luftschacht konnte es auch kaum sein, da für einen solchen nicht die geringste Notwendigkeit bestand. Jedenfalls war es verlockend, das Bild auch noch von dem gegenüberliegend« Häuserblock aus zu betrachten, und er wollte auf dem Rückweg die Schritte bis zur Ecke des Themseufers zählen, um für drüben eine ungefähre Orientierung zu haben.

Die Gestalt, die vorn durch die Pforte hereinschlüpfte, kam völlig lautlos und huschte wie ein Schatten an dem Mauerwerk hin, aber Ramsay gewahrte sie noch rechtzeitig genug, um sich mit einer raschen Wendung in den nächsten Winkel zu drücken. Das Versteck war nicht sehr verläßlich, doch bekundete der Ankömmling glücklicherweise keine große Vorsicht. Er bog in den gedeckten Gang zur Rechten ein und hastete dessen anderem Ende zu.

Ramsay hielt den Atem an, denn wenn der Mann seinen Weg beibehielt, mußte er dicht an ihm vorbeikommen.

Und der Mann behielt seinen Weg bei. Erst kurz vor der rätselhaften Wand machte er Halt und stand nun Ramsay so nahe, daß dieser trotz des tiefen Dunkels das Gesicht des andern erkennen konnte. Und was er sah, sagte ihm, daß er den Herrn mit dem buschigen Schnurrbart vor sich hatte, dem der Handschuh gehörte . . .

Die Gestalt verharrte einige Sekunden dicht an der Mauer, dann begann sie, rasch in sich zusammenzusinken. Die Steinquader, auf der sie in die Tiefe glitt, lief ohne jedes Geräusch, und als Ramsay sich vorneigte, um einen Blick nach unten zu tun, kam er bereits zu spät.

Immerhin glaubte er aber, das Geheimnis, das die Mauer barg, nun zu kennen und damit unmittelbar vor seinem Ziel zu stehen. Wenn er noch den geringsten Zweifel gehegt hätte, so wäre dieser jetzt geschwunden. Es war nun so weit, daß er die Geschichte der ›Chinesischen Nelke‹, die der armen Maud Hogarth. so furchtbare Erlebnisse gebracht und dem Admiral Sheridan so schwere Sorgen bereitet hatte, jeden Augenblick aufklären konnte.

Sollte er den letzten Schritt noch heute, noch in dieser Nacht tun, damit Maud Hogarth und Admiral Sheridan endlich zur Ruhe kamen?

Ramsays Gedanken flogen in ein Zimmer in dem stillen Hause bei der Westminster Brücke, und er kämpfte einen schweren Kampf . . .

Aber dann dachte er an den Kahlkopf, dem er gestern nacht eine Kugel in den Arm gejagt hatte und hinter dem auch Oberst Wilkins so eifrig her war, und er sagte sich, daß die Stunde für den letzten Schritt noch nicht gekommen sei. Auf keinen Fall durfte Wilkins jenen Mann zur Strecke bringen, auch das wollte er selbst besorgen . . .

»Es ist alles in Ordnung, ich brauche Sie nicht mehr«, erklärte Ramsay, als er Schlag zehn Uhr zu dem Treffpunkt zurückkehrte und der geräuschvolle Spritzer, den Peter Owen aus dem Mundwinkel tat, verriet, wie unzufrieden er mit diesem Verlauf der Dinge war.

Dafür entschädigte ihn Brook durch eine beharrliche Einladung zu einem Glas Bier, und als er gar noch hinzufügte: »Sie müssen mir die Geschichte mit Mrs. Machennan noch einmal ganz genau erzählen«, sah der ehemalige Oberbootsmaat die Fortsetzung dieses langweiligen Abends in einem viel freundlicheren Licht.

 

Der Herr der geheimnisvollen Räume im Klub der Globetrotter hatte einen aufregenden Tag hinter sich.

Der Mann mit dem buschigen Schnurrbart rannte in seinen sorgsam gesicherten vier Wänden ruhelos auf und ab und suchte sich über die Gefahr klar zu werden. Daß sie nun wirklich da war, darüber konnte er sich keiner Täuschung mehr hingeben, aber von welcher Seite kam sie, und was konnte sie bringen?

Davon hing die Entscheidung ab, die er treffen mußte. Wenn die bedenklichen Geschehnisse von jenen Leuten ausgingen, die die Kassette gestohlen hatten, lagen die Dinge noch immer nicht allzu schlimm. Gewiß, diese Bande, die er leider unterschätzt hatte, war ihm bereits verdammt nahe an den Leib gekommen, aber schließlich hatte er von ihr nichts Ernstliches zu befürchten. Die Leute mochten ahnen, daß es mit den Papieren eine besondere Bewandtnis hatte, aber worin diese bestand, konnten sie nicht wissen. Und daß Maud Hogarth plauderte oder gar die Dokumente aus den Händen gab, war ausgeschlossen. Der Zettel mit der Handschrift Bexters hatte zwar seinerzeit seinen eigentlichen Zweck nicht erfüllt, da Foster im entscheidenden Augenblick die Nerven verloren hatte, aber er war doch von großem Nutzen gewesen. Das eingeschüchterte Mädchen hatte geschwiegen und würde sicher auch weiter schweigen, wenn der unternehmende junge Mann mit der Nelke sich auch noch so viel Mühe gab. Falls es also auf eine Erpressung abgesehen war, konnte diese nur einen Versuch mit halben Mitteln bedeuten.

Aber der geheimnisvolle Chef war trotzdem bereit, mit sich reden zu lassen. Ja, er hätte in dieser Stunde sogar schon für die Gewißheit, daß es sich wirklich nur um Erpressung handelte, ein hübsches Stück Geld gegeben, denn dann verlor alles Unerklärliche, vor dem er stand, seine ärgsten Schrecken.

Wenn es aber vielleicht doch um etwas anderes ging und er sich über den Gegenspieler, der ihm so geschickt jeden Zug durchkreuzte, in einem Irrtum befand? Was war zum Beispiel mit der Frau geschehen, die in Bayswater einen Besuch gemacht hatte? Warum hatte sich Simonow nicht mehr gemeldet? Wo waren die Leute mit dem Wagen geblieben – und wo war Maud Hogarth? Und was war in Camberwell los, daß er keine Verbindung mit dem Hause bekommen konnte und zwei verläßliche Boten, die er hingeschickt hatte, bisher nicht zurückgekehrt waren?

Bloß eine Sache, jene in Hoxton, war glatt verlaufen, und doch wünschte er, sie wäre nicht geschehen. Denn wenn das andere nicht geklappt hatte, konnte aus diesem gelungenen Bruchstück seines Plans nur eine neue Gefahr entstehen . . .

Ein leises Anschlagen der Telefonklingel ließ den sorgenvollen Mann zum Apparat stürzen. Aber es war weder Simonow noch einer der anderen Leute, sondern Nummer Drei. Das Gesicht des Chefs verriet zunächst einige Enttäuschung, aber schon im nächsten Augenblick bekam es einen gespannten, lauernden Zug. Der Kahlkopf war in der Lage, ihm jene Gewißheit zu schaffen, die er brauchte – was würde er zu hören bekommen?

Es schien nichts Aufregendes zu sein.

»Nein«, erwiderte er kurz, »heute nicht; außer wenn Sie mir etwas Besonderes mitzuteilen haben . . .« Er lauschte mit hochgezogenen Brauen. »Es ist also nichts los? Was machen die Leute, die sich für Sie interessieren? Sie haben sie abgeschüttelt und auf eine andere Spur gehetzt? Um so besser. Morgen also?« Der Herr mit dem buschigen Schnurrbart brauchte eine ziemliche Weile, um über die Antwort auf diese Frage schlüssig zu werden. »Ja«, sagte er endlich, »es wird vielleicht notwendig sein. Also eine Viertelstunde nach Mitternacht, diesmal an der bekannten Stelle in Rotherhithe. Bitte, horchen Sie mittlerweile recht eifrig herum und nützen Sie all Ihre Beziehungen aus, denn mir wollen die Dinge trotz allem nicht recht gefallen. Und vergessen Sie ja nicht, daß Ihr Kopf in der gleichen Schlinge steckt wie der meine.«

Mit dieser wohlgemeinten Erinnerung brach der Herr der geheimnisvollen Räume das Gespräch ab, aber es hatte ihm nicht jene Beruhigung gebracht, die er noch vor wenigen Tagen daraus geschöpft hätte. Der Mann, der sich eben gemeldet hatte, war bis vor kurzem die zuverlässigste Karte in seinem gefährlichen Spiel gewesen. In jener Stunde jedoch, da ihm Nummer Drei anvertraut hatte, daß Wilkins' Leute hinter ihm her seien, war sein Mißtrauen erwacht. Was sollte das heißen? So sehr der Kahlkopf auch bemüht war, sich durch alle möglichen Kniffe zu vernebeln – er war sich über dessen Persönlichkeit schon im klaren gewesen, bevor sie miteinander noch in Verbindung traten. Und eben weil er alles wußte, hatte er ihn nach einem katastrophalen Verlust am Spieltisch geschickt in seine Netze gezogen. Es war ein gewagter Versuch gewesen, aber er war gelungen, und dann hatte Nummer Drei selbst dafür gesorgt, sich rettungslos zu verstricken. Nun hatte er ihn schon längst völlig in der Hand, denn zu allem andern konnte er ihn auch noch eines Mordes bezichtigen und alle Beweise hierfür erbringen. Hing es vielleicht damit zusammen, daß auf einmal die Leute des Obersten Wilkins aufgetaucht waren? Wußte der Kahlkopf doch von irgendwelchen bedrohlichen Dingen, die sich vorbereiteten, und plante er einen Streich, um rechtzeitig aus der Schlinge zu kommen? Warum hatte er heute auf eine Zusammenkunft gedrängt, während er doch früher solchen Verabredungen lieber ausgewichen war, wenn er nicht gerade Geld brauchte?

Der Chef begann, in seiner Unruhe wieder auf und ab zu laufen. Vielleicht kam von seinen Leuten doch noch eine Nachricht . . . Und die Nachricht kam endlich.

Als es ein Uhr morgens geworden war, hielt es der Mann für notwendig, auf alle Fälle gewisse Vorkehrungen zu treffen. Er fuhr mit dem Aufzug in die Tiefe, hielt aber plötzlich mitten in dem engen Schacht an und machte sich an dessen Holzverschalung zu schaffen. Eines der Bretter wich zur Seite und gab einen schmalen Eingang in eine kleine Kammer frei. Sie wies außer einem Sessel und einem eingebauten Schrank nicht den kleinsten Einrichtungsgegenstand auf, und auch die weiß getünchten Wände waren völlig leer. Nur ein dichtes Netz von Drähten lief über das Mauerwerk und mündete in dem massiven Schaltkasten.

Der Chef öffnete eine Klappentür desselben und betrachtete mit zuckendem Gesicht das System von Hebeln, Schaltern und Kontakten, das hier untergebracht war. Diese komplizierte Anlage, an der Wochen hindurch Nacht für Nacht fremde, verschwiegene Männer mit lautloser Emsigkeit gearbeitet hatten, bildete mit der Tastatur oben in seinem Schreibtisch den Schlüssel zu seinem geheimnisvollen Betrieb. Er konnte Gespräche auf einen eigenen Kurzwellensender umschalten und nach Belieben irgendwohin ausstrahlen, und er konnte damit Fahrstühle in Bewegung setzen und ferne Türen öffnen und schließen . . .

Und wenn es einmal zum Äußersten kam, konnte er damit auch noch etwas anderes . . .

Er griff mit zaghaften Fingern nach einem rot isolierten Leitungsdraht, der lose herabhing, und zögerte sekundenlang. War es wirklich schon so weit, daß er für diese Möglichkeit sorgen mußte?

Entschlossen stieß er den Stecker der roten Schnur in eine winzige rote Steckdose, schloß die eine Klappentür und öffnete die andere. Diese enthielt bloß ein hölzernes Gehäuse und davor einen kleinen Morseapparat. Wieder überlegte der Herr mit dem buschigen Schnurrbart einen Augenblick, dann drückte er auf den Taster. Es war besser, er schickte die Warnung zu früh in die Welt, als daß sie zu spät kam. Wenn gewisse Dinge geschahen und er plötzlich schwieg, sollte man dafür eine Erklärung haben . . . Tack – tack – tacktack – tacktacktack . . . hallte es in wechselndem Rhythmus durch den kleinen kahlen Raum.


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