Louis Weinert-Wilton
Die chinesische Nelke
Louis Weinert-Wilton

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51

Etwa um dieselbe Stunde wurde Scotland Yard durch zwei Meldungen, die kurz hintereinander einliefen, in Bewegung gesetzt.

Die eine kam von der Polizeistation in Hoxton, die zweite aus Limehouse. Die erste berichtete von einem Mord, dem ein Rechtsanwalt namens William Gardner zum Opfer gefallen war, die andere von einem bisher ungeklärten Unfall an der Themse. Die Strompolizei hatte in dem ungefähr vier Fuß hohen, ziemlich reißenden Uferwasser ein umgestürztes Auto gefunden und unweit davon einen Frauenmantel und einen Hut aufgefischt. In dem Wagen selbst war niemand, aber es sei möglich, daß der Lenker durch eine der offenen Türen hinausgeschleudert war.

Es folgten dann noch die Nummer des Autos sowie eine kurze Beschreibung der Kleidungsstücke, aber der junge ehrgeizige Inspektor Travers, den diese Dinge angingen, hatte für den zweiten Fall zunächst gar kein Interesse übrig. Der Name William Gardner war ihm wie ein elektrischer Schlag in die Glieder gefahren, denn er wußte sofort, wo er ihn hin zu tun hatte. Die Mordanklage gegen Maud Hogarth war für ihn eine Schlappe gewesen, von der er bis heute nicht loskommen konnte. Irgend etwas hatte er dabei versehen, er wußte aber nicht was.

Nun bot sich ihm hierzu vielleicht endlich eine neue Gelegenheit. Wenn es nicht zwei Anwälte des gleichen Namens gab, wenn es sich wirklich um den Verteidiger Maud Hogarths handelte, konnten sich Umstände ergeben, die auch den Mord an Major Foster restlos aufklärten. Jedenfalls wollte er bei seinen Erhebungen von vornherein mit einem gewissen Zusammenhang rechnen.

Travers saß mit seinen Leuten bereits im großen Polizeiauto, als ihm doch noch die Meldung aus Limehouse einfiel, und er sandte einen der Detektive rasch zum Yard zurück, um den Besitzer der betreffenden Wagennummer feststellen zu lassen.

Der Mann war in wenigen Minuten wieder zur Stelle.

»Der Wagen gehört Miss Maud Hogarth in Notting Hill«, berichtete er, und der Inspektor erhielt einen zweiten Schlag.

»Los!« gebot er dem Chauffeur aufgeregt, aber am Tor wurde das Auto vom Posten angehalten.

»Oberst Ashford wünscht Sie sofort zu sprechen«, meldete der Konstabler mit der Hand am Helm. »Es ist eben telefoniert worden.«

Der Inspektor war mit einem Satz wieder aus dem Wagen, raste über einige Höfe und eine breite Treppe hinauf. Er wurde im Augenblick vorgelassen.

»Es ist mir lieb, daß ich Sie noch erreicht habe«, empfing ihn Oberst Ashford, und in seinem sonst so beherrschten ledernen Gesicht war wirklich Erleichterung zu lesen. »Es handelt sich um die beiden Vorfälle in Hoxton und Limehouse«, fuhr er in seiner eintönigen, knappen Art fort. »Ich glaube, sie werden Ihnen nicht viel zu schaffen geben. Wichtig ist, daß vorläufig keine Einzelheiten in die Öffentlichkeit gelangen. Also keinerlei Mitteilungen an die Presse, außer den nackten Tatsachen, wie sie die ersten Meldungen der Reviere enthielten. Sie verstehen mich?«

»Gewiß, Sir«, versicherte Travers mit einigem Unbehagen. Das sah ja ganz so aus, als ob der Chef bereits mehr von den Dingen wußte, und in diesem Fall mußte sich seine eigene Arbeit doppelt verantwortungsvoll gestalten. Das machte ihm zwar nichts aus, aber das Gefühl, unter einer Art Kontrolle zu stehen, war keineswegs angenehm. Man wurde unsicher und nervös.

»Sobald Sie zurückkommen, erstatten Sie zunächst mir persönlich Bericht«, sagte der Oberst noch, dann neigte er mit einem kurzen Ruck den angegrauten Kopf, und der Inspektor war entlassen.

Schon der erste Augenschein in Hoxton brachte Travers eine gewisse Beruhigung. Das schien kein Fall, bei dem man so leicht in die Irre tappen konnte. Der Mord war vom Hauswart entdeckt worden, der, wie allabendlich, um halb acht die Runde gemacht hatte. Im Haus befanden sich fast durchweg Geschäftsräume, die spätestens um sechs Uhr geschlossen wurden, und der Mann hatte die Pflicht nachzusehen, ob alle Türen versperrt waren. Als er heute im Vorraum von Gardners Kanzlei Licht bemerkte, hatte er die Klinke niedergedrückt, die auch wirklich nachgab, und im selben Augenblick hatte er auch schon die reglose Gestalt und die mächtige Blutlache auf dem Fußboden entdeckt.

Travers besah sich vor allem die Waffe, mit der der tödliche Stich geführt worden war, und fand, daß er schon damit ein sehr wichtiges Beweisstück in Händen hatte. Es war ein venezianischer Dolch von alter gediegener Arbeit. Den Besitzer dieser Waffe zu ermitteln, konnte kaum allzu schwierig sein. Sonst allerdings lieferte der Tatort zunächst keinerlei weiteren Anhalt. Die Räume waren in tadelloser Ordnung, und es zeigte sich nirgends die Spur eines Kampfes.

Rein gewohnheitsmäßig nahm der Inspektor schließlich noch ein Briefblatt auf, das auf dem Schreibtisch Gardners unter einem Beschwerer lag, aber kaum hatte er einen Blick darauf getan, als er förmlich erstarrte. Erst nach langem Besinnen faltete er das Papier zusammen und steckte es zu sich.

»Vorläufig bin ich hier fertig«, sagte er zu dem über diese Schnelligkeit etwas enttäuschten Inspektor des Reviers. »Wollen Sie nun noch Ermittlungen anstellen, ob vielleicht in der kritischen Zeit eine fremde Person im Hause gesehen wurde?«

Eine Minute später jagte Inspektor Travers bereits nach Limehouse. Er glaubte nun genau zu wissen, welche Bewandtnis es mit dem Unglück an der Themse hatte. Diese schöne stolze Maud Hogarth tat ihm aufrichtig leid, denn er hatte von ihr trotz allem einen sehr guten Eindruck gewonnen. Aber über dieses Mitleid ging seine Genugtuung. Dieser zweite Fall lag schon nach den bisherigen Ergebnissen weit klarer und würde voraussichtlich auch sein Vorgehen in der Mordsache Foster rechtfertigen. Wenn es ihm damals auch nicht gelungen war, die Beweiskette lückenlos zu schließen, so hatte er doch sicher nicht daneben gegriffen. Er war nach der Briefkopie, die er bei sich trug, fest überzeugt, daß Maud Hogarth auch diesmal wieder im Spiel war, und er deutete sich den rätselhaften Unfall in Limehouse im nächstliegenden Sinne: da sie einsehen mußte, daß es ein zweites Mal keine Rettung für sie gab, hatte sie sich ihrer hoffnungslosen Lage durch einen letzten verzweifelten Entschluß entzogen . . . Und was Travers am Themseufer sah, schien ihm recht zu geben, wenn auch die Suche nach der Besitzerin der aus dem Wasser gefischten Kleidungsstücke bisher keinen Erfolg gehabt hatte. Aber das war bei der herrschenden Flut und bei der Unsichtigkeit, gegen die auch die Scheinwerfer der beiden Polizeiboote nicht aufkamen, schließlich kein Wunder. Wenn es erst Morgen wurde und der Nebel schwand, würde sich wohl auch der Leichnam finden.

Der Inspektor übergab den triefenden Mantel und den Hut einem seiner Leute und richtete dann unter fingiertem Namen von der Polizeistation rasch noch eine Anfrage nach Notting Hill.

Nein, kam es zurück. Miss Hogarth sei nicht zu sprechen. Sie habe gegen vier Uhr eine Ausfahrt unternommen, sei aber noch nicht heimgekehrt.

Dieser Bescheid war eine Bestätigung seiner Annahme, und genau zweieinhalb Stunden nach seiner Abfahrt war Travers wieder im Yard.

Oberst Ashford hatte gewartet, bekundete aber nun für den Bericht überraschenderweise kein allzu lebhaftes Interesse. Er schenkte der Waffe, der Briefkopie und den Kleidungsstücken kaum einen flüchtigen Blick, und noch sonderbarer als diese Gleichgültigkeit berührte den Inspektor das kalte, verbissene Lächeln des Chefs.

»Sie haben also den Eindruck gewonnen, daß auch diesmal wieder vor allem Miss Hogarth als Täterin in Betracht kommt und daß sie Selbstmord begangen hat?« fragte der Oberst endlich.

»Allerdings«, gab Travers ein bißchen unsicher zu. »Aber zunächst möchte ich doch noch die Herkunft der Waffe feststellen.«

»Oh, ich bin fest überzeugt, daß auch der Dolch Miss Hogarth gehört«, sagte Ashford und lächelte noch seltsamer. »In dieser Hinsicht dürfte wohl alles stimmen.« Aber plötzlich verfiel er wieder in seine gewöhnliche Trockenheit und überrumpelte Travers mit der Frage: »Ist seinerzeit festgestellt worden, ob Major Foster einen Hausschlüssel besaß?«

»Major Foster – einen Hausschlüssel?« Der Inspektor mußte nachdenken, und mit einem Mal kam ihm zum Bewußtsein, daß da vielleicht die bewußte bedenkliche Lücke war . . . Wenn Foster wirklich einen Hausschlüssel besessen hatte – und wenn jemand vielleicht noch vor Miss Hogarth zu ihm gekommen war – und wenn dieser Jemand die Minuten, in denen der Pförtner hinauf in die Wohnung und wieder herunter gefahren war, gewandt ausgenützt hatte . . . Dem Inspektor wurde sehr heiß.

»Soviel ich mich erinnere, ist dem nicht nachgegangen worden«, mußte er endlich ziemlich kleinlaut bekennen. »Aber das läßt sich wohl noch feststellen. Ich werde mich sofort mit dem Hauswart in Verbindung setzen.«

»Ich warte«, sagte Oberst Ashford, wurde aber nicht zu lange aufgehalten. Schon nach zehn Minuten war der Inspektor wieder zurück und mittlerweile offenbar eine bedrückende Sorge los.

»Foster hatte seinerzeit einen Torschlüssel«, meldete er lebhaft, »aber dieser wurde im Vorraum der Wohnung gefunden, wo er immer zu hängen pflegte. Man hat ihn dann dem Pförtner mit den übrigen Schlüsseln übergeben.«

Wenn der Chef durch diese Mitteilung irgendwie enttäuscht wurde, so ließ er es jedenfalls nicht merken. Er starrte sekundenlang auf einen mit flüchtigen Notizen bedeckten Zettel, und dann kam wieder das kurze Nicken der Verabschiedung.

»Danke, das wäre alles. Machen Sie über die Vorfälle in Hoxton und Limehouse bloß Ihren Bericht. Was sonst noch zu tun ist und wie sich die Dinge abgespielt haben, werden wir vom ›Haus im Schatten‹ hören.«

Inspektor Travers warf überrascht den Kopf hoch. Teufel noch einmal – das also steckte dahinter . . . Und wahrscheinlich war es auch schon im Falle Foster um solch eine Sache gegangen . . . Da hatte er eigentlich verdammtes Glück gehabt, denn man sah es gar nicht gern, wenn die Polizei die Nase zu tief in derartige Geschichten steckte.


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