Louis Weinert-Wilton
Die chinesische Nelke
Louis Weinert-Wilton

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4

Das sollte auch Mr. William Gardner erfahren, der als einziger Besucher um die Mittagsstunde in dem vornehmen, hinter einer hohen Mauer und dichten Baumkronen versteckten Haus in Notting Hill vorsprach. Maud Hogarth war von seinem Kommen unangenehm überrascht, und ihre Begrüßung fiel äußerst kühl aus.

Dabei durfte der gepflegte und korrekte Mann eigentlich auf einen freundlicheren Empfang Anspruch erheben, denn er hatte ihr in dem Gerichtsverfahren als Anwalt zur Seite gestanden.

Mauds Wahl war auf ihn gefallen, weil er sich ihr als erster und mit besonderem Eifer angeboten hatte, als bekannt geworden war, daß sie aus irgendeinem Grund die Verteidigung durch den berühmten Sir Thomas Hamerton abgelehnt hatte. Dieser völlig unverständliche Schritt war damals zu Ungunsten der Angeklagten ausgelegt worden. Sir Thomas war mit Mauds verstorbenem Oheim und Vormund eng befreundet gewesen und galt als ein Mann von strengen Rechtsanschauungen, die er auch seinen Klienten gegenüber vertrat. Man schloß also, daß Miss Hogarth Dinge zu beichten haben mochte, die sie sich scheute, einer ihrer Familie nahestehenden Persönlichkeit von solcher Denkart anzuvertrauen.

Der kaum dreißigjährige Gardner war bis dahin ein unbekannter Anwalt gewesen, aber der Fall Hogarth hatte mit einem Schlag die Aufmerksamkeit der großen Öffentlichkeit auf ihn gelenkt, obwohl ihm in der Verhandlung eigentlich keine besondere Rolle zugefallen war. Die Angeklagte hatte ihre Verteidigung fast ganz allein geführt, und ihr Rechtsbeistand hatte sich damit begnügen müssen, die Schwächen der Anklage möglichst eindrucksvoll aufzuzeigen. Bei der Lage der Dinge war dies jedoch eine ziemlich schwierige Aufgabe gewesen, denn es gab einige wichtige Punkte, über die Maud Hogarth einfach jede Aussage verweigerte.

So schwieg sie vor allem hartnäckig auf die Frage, was die flüchtig hingeworfenen Zeilen zu bedeuten hätten, die in der Schreibunterlage des ermordeten Majors Foster gefunden worden waren:

Die Andeutung hat großen Eindruck gemacht. M. H. kommt heute abend zu mir, um sich selbst zu überzeugen. Sobald . . .

Außer dieser unvollendeten Mitteilung ohne Anschrift wies das Briefblatt nur noch eine mit Farbstift vermerkte Zahl auf, und der junge ehrgeizige Inspektor Travers von Scotland Yard hatte auch diesen winzigen Anhaltspunkt aufgegriffen. Er vermutete, daß Foster das Schreiben vielleicht deshalb nicht beendet hätte, weil er eine telefonische Verständigung vorzog, und tatsächlich stellte sich heraus, daß die notierte Zahl mit der Telefonnummer des bekannten ›Klubs der Globetrotter‹ in Chelsea übereinstimmte. Irgendwelchen praktischen Erfolg zeitigte aber diese Entdeckung nicht. Major Foster war weder Mitglied des Klubs gewesen noch dort überhaupt bekannt, und bei der großen Zahl der täglichen Gespräche ließ sich auch nicht ermitteln, ob und wen er an dem betreffenden Tag vielleicht angerufen hatte.

Das Geheimnis dieser Sätze konnte während des ganzen Gerichtsverfahrens nicht gelüftet werden. Maud Hogarth gab lediglich zu, was sie nicht in Abrede stellen konnte: daß sie sich zu einem gewissen Zwecke in Fosters Wohnung begeben hätte und daß die Waffe, aus der der tödliche Schuß abgegeben worden war, ihr gehöre. Sie gab sogar weiter zu, daß es zwischen ihr und dem Major zu einer heftigen Auseinandersetzung, ja zu einem förmlichen Handgemenge gekommen sei, wobei ihr vom Mantel die drei chinesischen Nelken abgerissen wurden, die man in der verkrampften Hand des Toten gefunden hatte. Aber sie bestritt mit unerschütterlicher Hartnäckigkeit, den Schuß abgefeuert zu haben. Sie habe ihn auch nicht gehört, da sie nach der stürmischen Unterredung die vier Stockwerke des Hauses in großer Erregung und fluchtartiger Eile hinabgestürzt sei.

Diese Aussage mußte im wesentlichen als unglaubhaft angesehen werden, da sich sonst zu dem einen unlösbaren Rätsel des Falles noch ein zweites gesellt hätte. Kaum zwei Minuten, nachdem die verstörte junge Dame an dem verwunderten Pförtner, der im Tor stand, vorbeigeschlüpft war, hatte nämlich Oberst Wilkins die Portierloge angerufen und ersucht, Major Foster zu verständigen, daß er ihn verabredungsgemäß in etwa einer Viertelstunde abholen werde. Das Telefon in der Wohnung des Majors scheine nicht in Ordnung zu sein, hatte Wilkins hinzugefügt, da er keine Verbindung erlangen könne.

Da der Pförtner bestimmt wußte, daß Foster gegen sieben Uhr heimgekommen und seither nicht mehr ausgegangen war, hatte er zunächst versucht, die Mitteilung durch das Haustelefon weiterzugeben, war aber ebenfalls ohne Antwort geblieben. Das erschien dem Mann auffallend, und er fuhr daher mit dem Lift in das vierte Stockwerk, nachdem er vorher wegen der späten Stunde – es war bereits ein Viertel vor zehn – rasch noch das Haustor versperrt hatte. Vor der Tür des Majors angelangt, bemerkte er dann sofort, daß diese nicht ganz geschlossen war, da sich ein Zipfel des Korridorläufers zwischen die Flügel geklemmt hatte. Diese Entdeckung veranlaßte ihn, nun ohne weiteres in die Wohnung zu stürzen, wo er Foster mit einer Schußwunde im Hinterkopf leblos vorfand. Einige Schritte von der Leiche lag auf dem Teppich ein kleiner Browning, und neben dem Schreibtisch das Telefon, das aus der Kontaktdose gerissen war.

Der entsetzte Mann hielt sich nur etwa eine Minute auf, dann verständigte er von seiner Loge aus die Polizei. Diese erschien fast gleichzeitig mit Oberst Wilkins, der in seinem Wagen vorfuhr.

Aus diesen klaren und bestimmten Angaben des Portiers ging hervor, daß nach Maud Hogarth niemand mehr unbemerkt das Haus verlassen konnte. Einen anderen Ausgang als das vom Pförtner versperrte Haupttor gab es nicht, und eine Flucht über eine Feuerleiter oder über die Dächer kam, wie ein eingehender Lokaltermin erwiesen hatte, überhaupt nicht in Frage.

Damit brach eigentlich die Verteidigung Maud Hogarths völlig zusammen, und der gewissenhafte Richter unterließ es auch nicht, die Geschworenen in seinem Schlußwort auf alle Umstände aufmerksam zu machen: auf das verstockte Schweigen der Angeklagten über gewisse Punkte, wofür sie wohl sehr triftige Gründe haben müßte; und auf die Ergebnisse der Untersuchung, die einen Selbstmord Major Fosters unbedingt ausschlössen.

Noch mit demselben Atemzug aber sprach der erfahrene Richter plötzlich davon, daß selbst die belastendsten Indizien trügen können, da zuweilen der Zufall mit geradezu unheimlicher Tücke am Werke sei; und daß es Seelenkonflikte von so tragischer Art gebe, daß sie sich der Beurteilung nach gemeingültigen Ansichten und Begriffen entzögen.

Und dann hatte der würdevolle Richter unter atemloser Stille der hundertköpfigen Zuhörerschaft auch noch von dem ihm zustehenden Recht Gebrauch gemacht, seine persönliche Ansicht zu äußern.

»Ich stehe nicht an, zu erklären«, hatte er gesagt, »daß es mir trotz allem schwerfällt, an die Schuld der Angeklagten zu glauben. Es fällt mir schwer, weil die Menschenkenntnis, die ich mir an dieser Stelle in vielen Jahrzehnten erworben habe, gegen die Schuld spricht. Und es fällt mir schwer, an die Schuld zu glauben, weil es mir einfach unfaßbar erscheint, daß ein junges Mädchen von so sorgfältiger Erziehung und so makellosem Lebenswandel plötzlich einer solchen Tat fähig sein sollte; oder daß es, wenn es schon durch irgendwelche unseligen Umstände dazu getrieben wurde, nicht wenigstens den Mut fände, seine Schuld freimütig zu bekennen. Das widerspräche zu sehr dem Geist des ererbten Blutes, das sich, wie wir hier gehört haben, in schwerer Zeit durch Heldenhaftigkeit und andere außerordentliche Leistungen für das Gemeinwohl hervorgetan hat.«

Diese eindrucksvolle Andeutung des Richters bezog sich auf die Feststellung, daß Mauds Vater wie auch ihr Onkel Derham im Kriege gefallen waren, und sie bezog sich vor allem auch auf den erst kürzlich verstorbenen Bruder ihrer Mutter, Sir Herbert Bexter, der während des Krieges eine sehr bedeutende Rolle gespielt hatte. Wenn auch nicht Soldat, sondern Gelehrter, war seine Tätigkeit doch in ungezählten Fällen von entscheidendem Einfluß auf die Geschehnisse gewesen. Sir Herbert war nämlich ein Mann, dem zu seinem erstaunlichen Sprachentalent noch das Talent gegeben war, Geheimschriften mit derselben Leichtigkeit zu entziffern, mit der manche Leute Rätsel lösen. Die kürzeste Zeit genügte ihm, um auf das System zu kommen, und dann machte er sich in einem förmlichen Taumel mit unfehlbarer Sicherheit an die Arbeit. Das Büro, das man ihm im Hause der Admiralität eingeräumt hatte, war Tag und Nacht von einem Doppelposten bewacht, und niemand konnte ohne Angabe eines besonderen Losungswortes Zutritt erlangen. Für diese wertvollen Dienste war Sir Herbert mit den höchsten Auszeichnungen und Ehren bedacht worden, und auch nach dem Krieg war er für Downing Street eine wichtige und geschätzte Persönlichkeit geblieben.

Er war aber auch ein Mann von großer Herzensgüte gewesen, und seit dem vor einigen Jahren erfolgten Ableben ihrer Mutter hatte die nun völlig verwaiste Maud in ihm einen zärtlichen und fürsorglichen Vormund gefunden. Dafür liebte sie ihn geradezu abgöttisch, und sein jäher Tod hatte ihr eine schwere seelische Erschütterung gebracht.

Die Schlußworte des Richters waren während der martervollen Tage auch die einzige Gelegenheit gewesen, bei der Maud Hogarth für einige Augenblicke ihre bewundernswerte Fassung verloren hatte. Sie war plötzlich mit einem Wehlaut zusammengebrochen, und ein verzweifeltes Schluchzen hatte ihren ganzen Körper geschüttelt. Aber gerade, als die Geschworenen sich anschickten, sich zur Beratung zurückzuziehen, war sie ebenso plötzlich wieder aufgeschnellt, und ihre dunkle Stimme hatte die Jury zurückgehalten:

»Ich schwöre, daß ich es nicht getan habe – obwohl . . .«

Man erwartete in höchster Spannung irgendwelche Sensation, aber sie blieb aus. Die Angeklagte warf wieder einmal den Kopf zurück und preßte die Lippen zusammen, wie sie es so oft getan hatte. Und manche fanden, daß sie durch dieses seltsame Verhalten die wohlwollende Äußerung des gütigen Richters bedenklich abgeschwächt habe.

Vielleicht war es wirklich so gewesen, denn der Spruch der Geschworenen brachte kein eindeutiges ›Nicht schuldig‹. Lediglich dem ›Mangel an Beweisen‹ hatte Maud Hogarth ihren Freispruch zu verdanken.


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