Louis Weinert-Wilton
Die chinesische Nelke
Louis Weinert-Wilton

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26

Trotz der Aufregungen, die ihr das Weihnachtsdinner gebracht hatte, saß Mrs. Adelina Derham am nächsten Morgen zur gewohnten Stunde beim ersten Frühstück. Sie hatte sehr gut geschlafen, fühlte sich wohl und war gut bei Appetit. Tante Ady fand, daß der Abend riesig nett gewesen sei.

»Man hat wenigstens wieder einmal Leute gesehen«, äußerte sie befriedigt zu Maud, als diese endlich ziemlich verspätet erschien. »Hast du Mrs. Ryan bemerkt? Sie ist doch um einige Jahre jünger als ich und um einen halben Kopf kleiner, aber sicher zehn Pfund schwerer. Und da behauptest du immer, daß ich so schrecklich stark sei . . .«

Tante Ady erwartete etwas bange eine Erwiderung, doch sie kam nicht. Maud lächelte nur vor sich hin, und dieses Lächeln war so eigenartig, daß es sogar Mrs. Derham auffiel. Überhaupt schien ihr das Kind heute so ganz anders als sonst. Die böse Falte zwischen den Brauen war wie weggewischt, und die großen dunklen Augen blickten gar nicht mehr kampflustig, sondern weich und verträumt. Tante Ady war dies sehr recht, und sie strich mit Behagen noch zwei Marmeladebrötchen.

Auch der Butler, der sich nach dem Frühstück einstellte, vermochte Maud nicht aus ihrer ungewöhnlichen Stimmung zu bringen, obwohl er über eine schwere Verfehlung eines Bediensteten zu berichten hatte. Der Gärtnergehilfe sei während der Nacht heimlich aus dem Haus gegangen und noch nicht zurückgekehrt. Ob man die Polizei verständigen sollte? Vielleicht sei dem Mann ein Unfall zugestoßen?

»Die Polizei? – Nein«, entschied Maud schnell, behandelte jedoch im übrigen die ärgerliche Sache recht gleichmütig. »Vielleicht kommt er noch. Natürlich entlassen Sie ihn sofort.«

Der Butler sah riesig feierlich aus, und die Art, wie er das silberne Tablett mit den drei blütenweißen schmalen Karten präsentierte, hatte etwas von der Förmlichkeit eines Staatsaktes.

Maud nahm verwundert eine der Karten auf – dann rasch auch die beiden andern – und schon begann es in ihrem Gesicht zu wetterleuchten.

»Sagen Sie den Herrschaften . . .«, setzte sie scharf an, aber in diesem Augenblick war auch Tante Ady mit der Flinkheit der Neugierde schon da und guckte ihr über die Schulter.

»Besuch!« stieß sie mit dem letzten Atem hervor, den ihr dieses aufregende Ereignis ließ. »Und lauter nette Leute . . . Sie werden uns eine Menge erzählen. Wir wissen ja gar nicht mehr, was in der Welt vorgeht. Du kannst sie doch nicht wegschicken, Maud!«

Um Mauds Mund zuckte es noch einige Male bedenklich, dann aber brach sie in ein so belustigtes Lachen aus, daß die von ängstlicher Erwartung gepeinigte Mrs. Derham endlich, dazu kam, wieder Luft zu schöpfen.

»Also, in den großen Salon«, sagte Maud kurz.

Es waren wirklich sehr nette Leute, und sie überboten einander an Liebenswürdigkeit und Takt. Sie gedachten mit Ergriffenheit des lieben, unvergeßlichen Sir Herbert, versicherten, daß nur die Trauerzeit sie abgehalten habe, Mrs. Derham und Miss Hogarth lästig zu fallen – und dann taten sie alle einen geschickten Sprung über gewisse heikle Geschehnisse hinweg und deuteten an, daß sie nun eben wieder da seien. Aufrichtige, ergebene Freunde, die man hoffentlich nicht ganz vergessen habe . . .

Maud hörte kühl zu, und Tante Ady harrte begierig, bis endlich andere Themen an die Reihe kämen. Sie hatte kürzlich von dem Scheidungsprozeß einer Jugendfreundin gelesen, in dem so schreckliche Dinge zur Sprache gekommen sein sollten, daß die Zeitungen sie nur anzudeuten wagten; das war riesig interessant, und wenn sie den Namen geschickt einwarf, konnte sie nun wohl alles bis ins kleinste erfahren. Mrs. Derham wartete also mit dem Namen auf der Zunge auf eine günstige Gelegenheit . . .

Und dann überbrachte der Diener keine Karte, sondern öffnete mit großer Feierlichkeit gleich die Tür . . .

»Verzeihen Sie, daß ich mich nicht anmelden ließ«, lachte Lady Falconer vergnügt, während sie herein wirbelte, »aber ich liebe es, meinen Bekannten hier und da solche kleine Überraschungen zu bereiten.« Damit war sie auch schon bei der völlig verblüfften Mrs. Derham, die ihre Kolossalfigur nicht so rasch aus dem tiefen Lehnsessel zu heben vermochte, und schüttelte ihr herzlich die Hand, und die versteinerte Maud bekam, bevor sie wußte, wie ihr geschah, einen richtigen Kuß auf die Wange. Dann wurden die netten Leute, die vor Ehrerbietung und Glückseligkeit zerflossen, mit einem huldvollen Nicken bedacht, und Lady Helen ließ sich geschmeidig in einen Sessel gleiten.

»So«, sagte sie, »und nun sollen Sie offen und ehrlich erfahren, weshalb ich gekommen bin. Ich weiß, ich habe mich sehr lange nicht blicken lassen, und das war recht garstig von mir. Aber ich bin leider ein etwas oberflächliches Geschöpf« – sie seufzte mit so allerliebster Zerknirschung, daß man ihr noch ganz andere Dinge vergeben haben würde – »und es ist mir eigentlich erst gestern abend so recht zum Bewußtsein gekommen. Das klingt nicht schön, aber es ist nun einmal so, und wenn Sie mir deshalb böse sind, so habe ich es verdient.«

Nachdem dieses reuige Bekenntnis heraus war, begann die lebhafte Lady von etwas anderem zu sprechen. »Sie haben gestern alles, was da war, in den Schatten gestellt, liebes Kind«, erklärte sie, indem sie Maud mit ehrlicher Bewunderung anstrahlte. »Ich bringe es übers Herz, Ihnen das zu sagen, denn mein Jahrgang kann ja bei einem solchen Wettbewerb nicht mehr mit. Wenn eine Schönheitskönigin gewählt worden wäre, so hätte es nur eine Stimme gegeben.«

Lady Falconer äußerte dies mit wirklicher Überzeugung, und die netten Leute stimmten in überschwenglicher Begeisterung zu. Maud aber saß mit kühlem, abweisendem Gesicht da und wußte nicht, was sie von dem überraschenden Besuch halten sollte. Jedenfalls brachte sie es nicht über sich, auf den so außerordentlich freundschaftlichen Ton einzugehen.

»Ich freue mich, daß diese besondere Ehre an mir vorübergegangen ist«, sagte sie wenig liebenswürdig, aber die Lady Helen überhörte die Schärfe und lachte unbefangen.

»Natürlich, was man hat, weiß man ja nie zu schätzen. Ich kannte in Ihren Jahren keinen größeren Ehrgeiz, als den Leuten zu gefallen, aber leider ist es mir nie so recht gelungen. Und heute bin ich schon viel bescheidener geworden. Ich kann mich sogar an der Schönheit anderer neidlos erfreuen und möchte nur ein bißchen daran teilhaben. Ja«, fuhr sie mit verblüffender Offenheit fort, »deshalb bin ich eigentlich gekommen. Nun, da Sie Ihre Zurückgezogenheit aufgegeben haben, möchte ich Sie gern öfters bei mir sehen. Sie dürfen nicht ›Nein‹ sagen. Ich bin nicht so boshaft, wie man mir nachsagt, und will dafür sorgen, daß Sie sich bei mir recht wohl fühlen. Machen Sie also wenigstens einmal den Versuch. Sagen wir: nächste Woche. Den Tag überlasse ich Ihnen . . .«

Sie unterstützte ihre dringende Bitte durch ein so zwingendes Lächeln, daß Maud die schroffe Ablehnung, die ihr der Widerwille gegen diese Frau eingab, nicht über die Lippen brachte.

»Ich weiß wirklich nicht . . .«, erwiderte sie ausweichend. »Vielleicht darf ich Sie noch verständigen?«

»Gut«, sagte Lady Falconer zufrieden, »ich erwarte also Ihren Bescheid. Selbstverständlich wird getanzt, und Sie werden die nettesten Partner vorfinden, die ich auftreiben kann« Sie begann plötzlich zu blinzeln und drohte Maud schalkhaft mit dem Finger. »Aber verdrehen Sie den Ärmsten nicht zu sehr die Köpfe, Liebste. Ich habe gestern einen Herrn beobachtet, auf den Sie einen derartigen Eindruck machten, daß er alles andere um sich vergaß. Er saß Ihnen gegenüber und führte die umständlichsten Manöver aus, um Ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Soviel ich sehen konnte, ist es ihm aber nicht gelungen –«

So harmlos Lady Falconer die Episode vorbrachte, Maud wurde dadurch in die größte Bestürzung versetzt. War das wirklich alles, was die für solche Dinge empfängliche Frau bemerkt hatte, oder war ihren scharfen Augen auch das andere nicht entgangen? Wollte sie nun etwa auf den Busch klopfen?

Maud war gesonnen, über dieses verfängliche Thema einfach hinwegzugehen, aber dann fielen ihr blitzschnell verschiedene Möglichkeiten ein, die sich ergeben konnten, und sie entschloß sich anders. »Sie meinen wohl den Herrn mit der Nelke?« fragte sie gleichmütig und brachte sogar ein kleines Lächeln zustande. »Es war ein Bekannter.«

»Oh, ein Bekannter!« Lady Helen schien zu fühlen, daß ihre Anspielung nicht so recht am Platz war, und lenkte sprunghaft ab. »Ich beneide Sie, liebes Kind, daß Sie nach diesem immerhin recht anstrengenden Abend so frisch aussehen können«, sagte sie. »Ich habe heute morgen eine ziemliche Weile gebraucht, um die Spuren dieses wüsten Gelages einigermaßen zu tilgen. Dabei bin ich kaum eine halbe Stunde nach Ihnen aufgebrochen, aber die Luft in solchen Räumen bekommt mir nun einmal nicht. Und während Sie wahrscheinlich sofort in einen gesunden Schlaf fielen, habe ich noch einige Stunden gelesen. Die Ärzte haben mir diese Unart, wie sie es nennen, zwar untersagt, aber solange sie mir kein wirksames Schlafmittel verordnen, weiß ich mir die Nächte nicht anders zu vertreiben.«

Sie schnellte mit einer Beweglichkeit auf, die ihre Klage recht übertrieben erscheinen ließ, und auch ihre Haltung verriet nichts von irgendwelcher Müdigkeit. Sie trug ein Kostüm mit kostbarem Pelzbesatz, das sie ausgezeichnet kleidete, an einer Hand aber hatte sie einen kleinen Muff, der für die netten Leute eine ähnlich überwältigende Offenbarung bedeutete, wie in der verflossenen Nacht die Möwe an der Abendrobe.

Und da die netten Leute mittlerweile der begierigen Mrs. Derham die aufregende Scheidungsgeschichte ihrer Jugendfreundin wirklich bis in die intimste Einzelheit anvertraut und so viel erlebt und gesehen hatten, daß sie damit die ganze Wintersaison in großen Ehren bestehen konnten, beeilten sie sich, bescheiden zu verschwinden, als die Lady Miene machte, sich gleichfalls zu verabschieden. »Also, meine Teuerste«, sagte Lady Falconer, »ich rechne ganz bestimmt mit einer Zusage. Das Weitere . . .«

Eine Bewegung und schwere Schritte in ihrem Rücken ließen sie den Kopf wenden, und dann saß sie plötzlich wieder, und um ihren Mund spielte ein herausforderndes Lächeln.


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