Louis Weinert-Wilton
Die chinesische Nelke
Louis Weinert-Wilton

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46

Simonow hatte unterwegs rasch wieder ein kurzes Telefongespräch geführt und besah sich nun das kleine Haus in der dritten Straße hinter der Westminster Brücke zunächst aus einiger Entfernung. Er gewann einen sehr günstigen Eindruck, und auch die Umgebung beruhigte ihn. Es gab hier gar keinen Verkehr, und man mußte daher keine besonderen Vorsichtsmaßnahmen treffen. Immerhin war aber einiges zu besprechen, und Simonow entwickelte seinem Begleiter, der ihm heute schon so gute Dienste geleistet hatte, knapp den einfachen Plan.

»Du gehst also jetzt hin, läutest und sagst, daß du Madam zu sprechen wünschst. Wenn das Mädchen erwidert, daß diese nicht zu Hause sei, schnauzt du sie an, daß du das wüßtest, daß aber Madam dir aufgetragen habe, auf sie zu warten. Du hast ja gehört, daß das Mädchen sehr einfältig ist, und solche Trampel lassen sich sofort einschüchtern, wenn man recht von oben herab mit ihnen redet. Und wenn du dann drinnen bist, paß den ersten günstigen Augenblick ab, quetsch ihr ein bißchen den Hals zu und dreh ihr einen ordentlichen Knebel in den Mund. Sobald du fertig bist, mach die Tür halb auf, und ich komme hinein und werde mich im Haus gründlich umsehen. Laß mich nicht zu lange warten, denn diese verdammte kalte Suppe kriecht einem durch Mark und Bein.«

Der andere nickte kurz und drückte die Melone noch unternehmender aufs Ohr. Er war ein jüngerer wohlgebauter Mann, der mit seiner blendenden Eleganz und seinen verräucherten Goldzähnen die Herzen der Damenwelt von Peckham bis Deptford in Wallung brachte und eine sehr kräftige und sichere Hand führte. Deshalb begnügte er sich, zu dem Kinderspiel, das man von ihm verlangte, einfach zu nicken und sich mit festen Schritten auch schon dem gewissen Hause zuzuwenden.

Pheny döste in der unbeleuchteten Küche mit geschlossenen Augen und dem Fünfunzengewicht auf der Zunge, und das energische Klingeln schreckte sie so auf, daß sie unter gewaltigem Lärm in die Diele polterte und ohne weiteres die Haustür aufriß.

Der Gentleman an der Schwelle machte seine Sache sehr gut und ließ es an Entschiedenheit nicht fehlen, aber Pheny, die die Türöffnung ziemlich ausfüllte, hatte als Antwort auf die schöne Rede nur ein entschiedenes »Kchchch . . .«

Der Mann fand, daß dieses Mädchen wirklich schrecklich einfältig war und daß man da keine Zeit zu verlieren brauchte. »Spucken Sie die Pflaume, die Sie im Mund haben, aus, wenn Sie mit einem Besucher sprechen«, brüllte er sie an, »und machen Sie Platz! Ich . . .«

Weiter kam er nicht, denn Pheny gehorchte, und das Fünfunzengewicht flog ihm, wie aus einer Dampfspritze geschleudert, mitten ins Gesicht. Immerhin bewahrte er aber so viel Fassung, daß er sich mit einem wuchtigen Anprall auf die unfreundliche Türhüterin warf und durch diese Überrumpelung ins Haus gelangte.

Die Pforte fiel krachend ins Schloß, und der lauschende Simonow huschte von der andern Straßenseite herüber.

Er mußte eine ganze Viertelstunde warten, denn diese Zeit brauchte Pheny, um den selbstbewußten Gentleman mit den verführerischen Goldzähnen wieder auf seine Beine zu bringen. Ihn umzulegen, war eine Kleinigkeit gewesen, aber ganz so, wie Madam es ihr eingeschärft hatte, hatte sie sich dabei nicht verhalten können. Das war jedoch nicht ihre Schuld, und sie wollte es Madam schon genau erklären. Der Bursche war ihr ja an den Hals gesprungen, und da er dabei die Arme vor sich hielt, konnte sie nicht zu seinem Kinn gelangen, sondern mußte ihm ein bißchen auf die rechte Kopfseite klopfen. Es war gar nicht so stark gewesen, aber der wehleidige Bengel hatte sich sofort hingelegt und war nun nicht mehr aufzubringen.

Pheny schwitzte gewaltig, und ihr breites Gesicht glühte wie eine Ofenplatte, aber so kräftig sie an dem Mann auch herumzerrte und knetete, er machte keinen Zuck. Endlich erinnerte sie sich, einmal etwas von kaltem Wasser gehört zu haben, und wenn sie damit auch die Diele, die sie erst gestern gescheuert hatte, wieder verdarb, wollte sie es doch versuchen. Sie nahm einen großen Kübel voll Wasser und schwappte ihn dem störrischen Strolch mit einem kräftigen Schwung über den Kopf.

Schon in der nächsten Sekunde gab das bisher reglose Bündel zur gewaltigen Erleichterung Phenys deutliche Lebenszeichen von sich, und sie griff rasch zu. Der Mann torkelte zwar noch, aber sie konnte ihn wenigstens bis zur Tür bugsieren und dort an die Wand lehnen. Dann fischte sie noch die weiche Melone aus der rinnenden Pfütze, drückte sie der schlotternden Gestalt auf das wirre Haar und öffnete . . .

Simonow war bei dem geräuschvollen Treiben im Haus etwas unbehaglich geworden, aber nun atmete er auf und war mit einem Satze oben auf den Stufen . . .

Zu seiner peinlichen Überraschung blickte er in ein breites, erhitztes Gesicht, und bevor er noch einen Gedanken zu fassen vermochte, hatte Pheny bereits mit der Faust ausgeholt, und es gab draußen auf den Stufen ein heftiges Gerumpel. Dann griff Pheny nach dem schwankenden Etwas, das sie an die Wand gelehnt hatte, und auf den Stufen rumpelte es zum zweiten Mal.

»Kchchch . . .«, keuchte Pheny wütend hinterdrein, weil sie soviel unnütze Arbeit gehabt hatte. Und plötzlich fühlte sie, wie etwas in ihr riß, und ohne daß sie sich dessen eigentlich bewußt war, brach ein deutlicher fließender Redestrom aus ihrem breiten Mund: »Ihr Gesindel, ihr gemeinen Gauner, ich werde euch schon geben! Kommt mir noch einmal vor die Tür, und ich zerklopfe euch eure verlausten Schädel wie Eierschalen!«

Pheny war von ihrer Stimme und plötzlichen Beredsamkeit so erschreckt, daß sie jäh innehielt und sich kräftig in das stämmige Bein zwickte. Sie mußte einen schweren Traum haben, denn das war ja gar nicht möglich . . . Sie hatte es mit dem Reden zwar noch nie so richtig versucht, weil man das gar nicht brauchte, aber wenn die Geschichte ohne jede Anstrengung ging . . .

Um völlig sicher zu sein, sandte sie mit ihrer dröhnenden Stimme rasch noch einige freundliche Worte in das Dunkel, obwohl dort nichts mehr zu sehen und zu hören war; und wahrhaftig konnte sie mit einem Mal das H aussprechen, und auch das C, das G und das K spießten sich nicht mehr am Gaumen. Da hatte sie sich also doch nicht umsonst abgerackert . . .

Das Fünfunzengewicht! – Pheny erinnerte sich mit Schreck, daß sie es vorhin ausgespuckt hatte, weil der Mann es so wollte, und begann eine eifrige Suche. Als sie es glücklich gefunden hatte, säuberte sie es mit Andacht und faßte einen Entschluß: sie wollte Madam bitten, ihr das wundertätige Gewicht zu schenken.


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