Louis Weinert-Wilton
Die chinesische Nelke
Louis Weinert-Wilton

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39

Tante Ady fühlte sich so wohl und zufrieden, wie schon lange nicht, denn mit dem Kinde ließ sich seit dem Weihnachtsdinner wirklich sehr gut auskommen. Und gestern abend hatte Maud zur größten Verwunderung der glückseligen Mrs. Derham sogar ein Schallplattenkonzert eingeschaltet, bei dem fast ausschließlich von Liebe die Rede gewesen war.

Mrs. Derham freute sich über diesen Wandel, zerbrach sich aber darüber nicht den Kopf, weil dies nicht ihre Art war. Und auch Maud Hogarth selbst vermied es ängstlich, der seltsamen neuen Saite nachzuspüren, die plötzlich in ihrem Innenleben alles andere überklang. Schließlich war es doch nur selbstverständlich, daß sie sich unablässig mit den Begebenheiten der letzten Tage beschäftigte, und daß natürlich auch das Bild des Mannes, der hierbei eine so bedeutende Rolle gespielt hatte, immer wieder vor ihren Augen auftauchte.

Auch an diesem Morgen geschahen wiederum zwei Dinge, die sie nötigten, sich ihres Verbündeten zu erinnern.

Zunächst einmal meldete sich Lady Falconer mit überschwenglicher Liebenswürdigkeit und drängte auf Mauds Bescheid wegen der Einladung. Der nächste Donnerstag würde so gut passen. Ob Maud nicht am Nachmittag auf ein halbes Stündchen kommen möchte, damit man verschiedenes besprechen könne. Es sollten nur Leute eingeladen werden, die ihr genehm seien . . .

Maud bedachte sich einen Augenblick, dann sagte sie zu. Sie war nicht mehr in der gereizten Stimmung, um eine schroffe Unhöflichkeit zu begehen. Die erfreute Lady Helen sandte ihr dafür durch das Telefon einen herzhaften Kuß.

Und dann kam ein Brief. Er trug auf dem Umschlag den Aufdruck des Anwaltsbüros Mr. Gardners, und Maud drehte ihn eine lange Weile unschlüssig hin und her. Sie hatte plötzlich das Empfinden einer nahenden Gefahr, war jedoch eher gespannt als erregt. Wenn es notwendig war, konnte sie sich ja nun bei ihrem Verbündeten Rat holen.

Sie suchte nach dem venezianischen Dolch – einem Geschenk Onkel Herberts – den sie als Brieföffner zu benützen pflegte, aber er war wieder einmal verlegt. Tante Ady verschleppte ihn immer heimlich auf ihr Zimmer, um seine haarscharfen Schneiden an irgendwelchen widerspenstigen Dingen auszuprobieren.

Maud riß also in ihrer ungeduldigen Erwartung den Umschlag einfach auf und überflog schnell die mit Maschine geschriebenen Zeilen:

Verehrte Miss Hogarth,

obwohl Sie meinen Beistand so schroff abgelehnt haben, fühle ich mich als Ihr ergebener Anwalt doch verpflichtet, nochmals auf die bewußte Angelegenheit zurückzukommen. Nach unserer letzten Unterredung, bei der Sie sich zu höchst unbedachten Drohungen hinreißen ließen, werde ich die Sorge nicht los, daß Sie in Ihrer Bedrängnis wirklich irgendeine verhängnisvolle Handlung begehen könnten, und vor dieser Katastrophe möchte ich Sie bewahren. Überlegen Sie sich daher mein Anerbieten nochmals ernstlich. Vielleicht kann die Andeutung, daß ich die Dinge, die Sie fürchten, zu kennen glaube, Sie endlich veranlassen, mir Ihr volles Vertrauen zu schenken. Ich erwarte Sie also heute nach sechs Uhr in meiner Kanzlei, und da wir ganz allein sein werden, können Sie sich völlig rückhaltlos aussprechen . . .

Maud Hogarth saß eine Weile mit starren Augen und der bösen Falte zwischen den Brauen, dann steckte sie das Schreiben zu sich und verschwand wortlos.

Als sie wieder nach unten kam, war ihr warmer Teint noch um eine Schattierung dunkler als sonst, und in ihren unruhigen Augen lag ein eigentümlicher Glanz.

»Wir werden etwa in einer Stunde Besuch bekommen«, sagte sie leichthin, aber so unvermittelt, daß Mrs. Derham das Modenheft aus der Hand glitt.

»Besuch? – Wen?« Tante Ady hatte vor freudiger Erregung schon wieder keinen Atem und vermochte daher nicht mehr hervorzubringen.

»Einen Herrn«, erklärte die Nichte gleichgültig.

»Alt oder jung?«

Maud mußte erst nachdenken, »so mittel . . .«

Das war Mrs. Derham gerade recht.


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