Oscar A. H. Schmitz
Bürgerliche Bohème
Oscar A. H. Schmitz

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53

Amalie fand bei ihrer Rückkehr den Charakter der Stadt etwas verändert. Sie war gerade in jenen Jahren fern gewesen, wo München seine frühere Natur abzulegen und elegant zu werden begann. In den Hauptstraßen sah man zwischen den volkstümlichen Bierhäusern und den behaglichen Tagecafés American Bars aus dem Boden wachsen. Zwischen den Münchener Mädeln und den Künstlerinnen erschienen gut gekleidete Frauen, wie man sie in anderen Großstädten sieht. Man fuhr Auto und zog sich abends für das Theater um. Die nun mit der großen Welt bekannte Frau Dr. Cornelius stellte dies mit wohlwollender Ueberlegenheit fest, sie war in der Tat gerade im richtigen Augenblick wieder in München aufgetaucht. Jetzt war man hier so weit, daß man eine Dame, die sich anzuziehen wüßte, auch in Schwabing zu würdigen verstand. Ihre Wohnung richtete sie sich elegant, doch nicht im Jugendstil ein; der weiß-gold-rote Salon, wie sie ihn bei der Baronin Wernitz gesehen hatte, wurde nun Wirklichkeit. Es gelang ihr, die alte Lene aus ihrer Heimatstadt nach München kommen zu lassen, wo sie ihr, von einem Mädchen für die schwere Arbeit unterstützt, den Haushalt führen sollte. Die Alte war mit gemischten Gefühlen gekommen. Sie hing an der Stadt, wo ihr ganzes Leben verlaufen war, wo ihre beiden Herrinnen begraben lagen, aber gleichzeitig zog es sie auch zu dem Melykindchen, das sie einst auf den Armen getragen hatte. Freilich vermochte sie sich schwer in den neuen Haushalt zu fügen, und diese große, blonde Frau, der sie nun zu folgen hatte, und die über alles lachte, was altmodisch war, wurde ihr immer fremder. Aber sie tat ihre Pflicht, und ein Rest von Pietät, der, ohne daß sie es sich zugestand, in Amalie war, gestaltete das Verhältnis erträglich.

Der Salon der Frau Dr. Cornelius, die bald einen Jour einrichtete, füllte sich schnell. Es war nicht mehr ganz jene behagliche Schwabingerei, die im »Tirol« geherrscht hatte, man war gehaltener geworden, wenn auch die Meinungen noch ebenso wirr und anspruchsvoll durcheinanderschwirrten. Das norddeutsche Element machte sich etwas fühlbarer. Es kamen ernsthafte junge Studentinnen, die es wirklich zu etwas bringen wollten, schlecht tanzten, dafür aber Bilder, deren Meister zweifelhaft war, annähernd richtig zu bestimmen wußten. Das Reformkleid war ganz und gar verschwunden, und man verschmähte es keineswegs mehr, seine Reize behufs sinnlicher Wirkung, wenn auch immer noch auf etwas phantastische, außerhalb Münchens nicht gebräuchliche Weise, zur Geltung zu bringen. Früher hätte das als Anerkennung der Hörigkeit des Weibes unter männlichen Paschalaunen gegolten. Jetzt wollte man gefallen, »reizvoll« sein. Die Herren waren ausgesprochene »Aestheten«. Manche ritten in den Morgenstunden im Englischen Garten, abends zog man unfehlbar den Smoking an und speiste in teuren Gasthäusern. Man hatte es auch aufgegeben, sich sinnlos lächerlich zu machen, indem man mit irgendeinem gleichgültigen Menschen des anderen Geschlechts Hand in Hand die Leopoldstraße hinunterging, vielmehr legte man wieder mehr Wert auf Formen und benahm sich in der Oeffentlichkeit unauffällig. Als der Fasching herangekommen war, beobachtete Amalie mit Ueberraschung, daß die Künstlerfeste bedeutend an Schätzung verloren hatten, und daß alle Welt auf den bal paré ging. Ueber alles dies lächelte sie nachsichtig. Sie fühlte, daß sie selbst um etwa zweieinhalb Jahre ihrer Zeit vorausgeeilt war, und die Menschen, welche sie umgaben, ließen ihr gern diesen Ruhm. Die jungen Leute lagen vor ihr auf den Knien, die jungen Mädchen bewunderten sie als eine welterfahrene Frau.

Die älteren Beziehungen nahm Amalie zum großen Teil wieder auf. Ihren Bruder Hermann begönnerte sie nun etwas. Er hatte tatsächlich in diesen Jahren gearbeitet, es zu einem ordentlichen Können gebracht, und war einer jener tüchtigen jungen Maler geworden, an denen München nicht arm ist. Sie verkaufen nicht selten etwas und tragen so dazu bei, daß der niedrige Schund, an dem sich früher die minderbemittelten Kreise ergötzten, durch anständig gemalte Sachen verdrängt wird. Die Besitzer der in modernem Geschmack eingerichteten, hauptsächlich für Künstlerbesuch berechneten neuen Lokale erwarben gern einmal ein solches Originalölbild für hundert bis dreihundert Mark, und auch manche Kleinbürger waren schon für derartige Ankäufe reif. So hatte Hermann Sanders einen Lebensinhalt gefunden; ohne sich zu schinden, arbeitete er doch wohl an den meisten Tagen des Jahres, und was er fertig brachte, gefiel.

Zu dieser erfreulichen Aenderung, die mit einer großen Aufheiterung seines Gemütes verbunden war, hatte nicht zum mindesten seine Freundin beigetragen, zu der er nun schon seit anderthalb Jahren in täglichen Beziehungen stand. Sie hieß das »Prinzeßchen«. Dieses hatte früher bei Oesterots verkehrt, und ihres wundervollen blonden Haares und ihrer sammetweichen, weißen Haut wegen hatte ihr Cornelius einst den Namen gegeben. Alle Leute waren von ihr entzückt, überall mußte sie dabei sein, man sprach von ihrer Schönheit und von der »Fabelhaftigkeit« ihrer Bewegungen. Dabei hatte niemand gefragt, wovon sie eigentlich lebte. Sie war das vierzehnte Kind eines Dorfschullehrers in Franken. Da war auch in die fränkische Einsamkeit die Botschaft gedrungen, daß junge Mädchen von jetzt ab mit Buchschmuck etwas verdienen könnten, und so wurde das Kind nach München geschickt, wo es ein paar Monate lang lernen sollte, um sich dann auf die eigenen Füßchen zu stellen. Während irgendeines Faschingsfestes hatte Oesterot sie entdeckt und in sein Haus gebracht. Das Mädchen, das zwar wußte, daß es hübsch war, aber niemals Huldigungen im dionysischen Stil erfahren hatte, war anfangs verwirrt gewesen von all dem Neuen, was es sah. Das arme Dorfkind kam plötzlich unter lauter gebildete Frauen, die gescheit redeten, zu Männern, die Titel hatten, ja, sogar eine Baronin war dabei und ein Fürst. Sie wurde sehr oft zum Abendessen eingeladen, und zwar von »Epheben«, die ihr Gedichte vorlasen; sie schrieb begeisterte und beruhigende Briefe nach Hause. Wenn man mit so feinen und gebildeten Leuten verkehrte, dann konnte es ja an gar nichts fehlen. Geküßt wurde sie auch recht viel, und schließlich nahm sie einmal ein Mensch in Pierrotkostüm nach einer Faschingsnacht mit in seine elegante Wohnung, und sie tat, was er von ihr verlangte. Gegen Morgen weckte er sie und fragte, ob sie ihn an die Bahn begleiten wolle, er müsse nämlich nach Paris reisen. So fuhr sie in ihrem Faschingskleidchen, in einen Abendmantel gehüllt, durch den unfreundlichen Wintermorgen, mit dem fremden Herrn an der Seite, der sehr lustig war und ihr einen ganzen Haufen Sachen geschenkt hatte, ungarische Bonbons, einen armenischen Seidestoff und eine türkische Kaffeemühle. Mit diesen exotischen Gaben kehrte sie dann allein in ihr Stübchen zurück und konnte sich vor Schmerz über das Geschehene kaum fassen. Sie sah nun die Welt etwas kritischer an, zumal das Geld auf die Neige ging und sie nun wieder hätte nach Hause zurückkehren müssen, falls sie nicht durch Buchschmuck das Nötige erwarb. Aber warum mußte es denn Buchschmuck sein? fragte sie sich, und sie hoffte immer, daß einmal einer von den vielen, feinen Herren ihr vorschlagen würde, seine Freundin zu werden, was ja doch viele Mädchen taten. Aber nie kam es dazu, man lud sie ein, man schickte ihr Konzertkarten, man machte Ausflüge mit ihr, man verlangte auch ihre Liebe, aber alle Leute waren so idealistisch, daß niemand fragte, wie es ihr denn eigentlich ging und was sie außerhalb der festlichen Stunden trieb. Einmal flüsterten sich zwei Schwabinger Epheben etwas ins Ohr. Jeder von ihnen hatte nun das Weib gefunden, das Geist, Seele und Sinne zugleich befriedigte; und siehe, in beiden Fällen war es das Prinzeßchen. So war es ein nützliches Mitglied der Gesellschaft. Es erfüllte mit Bravheit seine Aufgabe, heißblütigen jungen Leuten die nötige Sinnenruhe zu schaffen, um ihnen dann bei Oesterots ein platonisches Dionysiertum zu ermöglichen. Da kam einmal als rettender Engel ein Nürnberger Industrieller nach München, der sprach das Prinzeßchen ganz entschlossen auf der Straße an, war gar nicht künstlerisch, gar nicht idealistisch, hatte nie den Namen Dionysos gehört, aber er machte sie zu seiner Geliebten und schickte ihr monatlich fünfhundert Mark, wofür sie sich elegant kleiden und mit ihm bummeln mußte, wenn er nach München kam, was durchschnittlich jede Woche einmal geschah. Nach Nürnberg konnte er sie wegen seiner Familie nicht herübernehmen. Er sprach öfters davon, daß er sie für die Bühne ausbilden wolle, und ihr war das recht. Brav sein mußte sie freilich, das verlangte er von ihr, und sie war ihm bis jetzt auch noch nicht untreu geworden. Hermann hatte sie einmal an einem sonnigen Mainachmittag, während er im Englischen Garten eine Skizze von heuenden Arbeiterinnen in bunten Kopftüchern machte, in lichtem Sommerkleid auf einer Bank sitzen sehen. Sie waren schnell ins Gespräch gekommen, da sie sich aus früherer Zeit von Oesterots her kannten; und als er schließlich ihre näheren Umstände erfuhr, besonders, daß ihr der Nürnberger Industrielle doch mit der Zeit gar zu sehr auf die Nerven ging, da fand sich bald eine Möglichkeit, das Prinzeßchen von diesem nüchternen Geschäftsmenschen abzulösen und ihr als die Geliebte eines bemittelten Kunstmalers doch äußerlich eine haltbare Lage zu schaffen. So kam das Prinzeßchen wieder in ihre alten Kreise, und es tat ihr wohl, als ihre schiefe Stellung dadurch eine Art Rechtfertigung bekam, daß sie nun aus einem ausgehaltenen Mädchen zur »Gefährtin« eines Künstlers wurde. Das war doch ein großer Unterschied.

Hermann war verhältnismäßig schlank geworden, hatte nicht grade kräftige, aber doch rosige Farben, und seine dumpfe Motzigkeit war völlig einem etwas querköpfigen, aber schnurrigen Humor gewichen.

Einmal stellte ihn in einem Kaffeehaus ein aufgedunsener Student zur Rede mit den Worten:

»Haben Sie mich fixiert?«

»Ja,« antwortete er mutig, »schon eine ganze Weile.«

»Wie kommen Sie dazu?«

»Sie haben einen so interessanten Kopf; ich bin nämlich Künstler.«

»Ah, pardon, pardon,« stotterte der Student sich zurückziehend, »wollte nur konstatieren ...«

Ueber solche Dinge, die nicht selten vorkamen, lachte sich das Prinzeßchen halbtot. Sie konnte dann den Ausdruck ihrer Zärtlichkeit kaum bemeistern und griff unter dem Tisch nach Hermanns Hand.

 

Ein häufiger Gast bei Frau Dr. Cornelius war Dr. Oesterot. Er kam auch bisweilen ohne seine Frau, die etwas leidend war und sich viel zu Hause halten mußte. Der ehemalige Dionysos und Salomo erschien im nächsten Fasching plötzlich als Wotan: Er hatte inzwischen einen neuen Phantasie- und geistvollen Orgasmus in sich ausgebildet: die Wotanschauer. In Schwabing raunte man, er streife mit Freunden oder allein in den Wäldern umher, opfere in Neumondnächten an Kreuzwegen weiße Hähne und fühle die alten Götter noch in sich lebendig. Augenblicklich befand er sich, wie er sich ausdrückte, »in der Weißglut des Schaffens«. Seine wilde Lebendigkeit wurde oft von tiefen Traurigkeiten abgelöst, deren Umfang nur seine kluge Frau kannte. Im letzten Herbst nun, als sie einige Wochen vor den Freunden vom Land in die Stadt zurückgekommen waren – Oesterot liebte die Natur nicht, nur Menschen machten ihn lebendig –, bemächtigte sich seiner eine Art chronischer Schwermut. Er klagte Thea gegenüber, er habe sich verausgabt, sich an andere verschenkt, die seine Ideen, ja selbst einzelne Worte von ihm ausnutzten, und ihm bleibe nichts mehr übrig. Da setzte sich Thea eines Abends zu ihm unter den goldenen Buddha und eröffnete ihm, wofür sie in diesen zehn Jahren ihrer Ehe heimlich lebte. Kurz nach der Hochzeit hatte sie ihre Mädchentagebücher einmal vorgenommen, um sie weiterzuführen und schließlich war aus diesem ehelichen Tagebuch nichts Geringeres geworden, als eine bisweilen tägliche Aufzeichnung dessen, was ihr Mann an geistvollen Dingen beständig in den Raum, wenn er mit Menschen gefüllt war, versprüht hatte. Sie legte nun mehrere grüne Lederbände vor ihn, die quer in der Ecke in Gold die Aufschrift Tagebuch mit einem Schnörkel trugen. Oesterot stürzte sich fast gierig darauf, las und las – mußte hie und da über Mißverständnisse lächeln – und fiel dann schluchzend vor seiner Frau auf die Knie. Sie hatte dem Verschwender sein bestes Gut bewahrt, und Oesterot machte sich nun an die Arbeit zu einem umfangreichen Werk.

Für Amalie hatte Oesterot die alte naive Verehrung wie einst; sie hörte ihm mit Entzücken zu und glaubte, in seiner dithyrambischen Hingerissenheit immer wieder eine pathetische Rechtfertigung ihres eigenen Daseins zu finden. Besonders betonte er immer wieder dies:

»Nicht an den Dingen und sich selber zerren und modeln, auf das glühende Dasein schlechthin kommt es an, besonders für eine Frau. Bei Ihnen fühle ich mich darum so wohl, weil Sie das erfaßt haben und den Mut besitzen, nichts anderes mehr zu wollen und nichts zu können, als Leben zu gestalten. Sie haben sich wundervoll entwickelt, Amélie.«

Der fette Mann lief bei solchen Worten erregt vor ihr hin und her, redete sich in Pathos, brach dann plötzlich ab, ergriff seinen Hut und lief davon, genau wie einst, als er sie zum erstenmal in ihrem Pensionszimmer besuchte, um mit ihr über das dionysische Sommerfest zu reden.

Sehr viel Mühe gab sich Frau Dr. Cornelius, die Baronin Wernitz in ihren Salon zu ziehen, aber das war sehr schwierig. Sie machte ihr einen Besuch und fand sie in ihren alten, schönen Räumen. Sie war gerade beim Ausgehen und hatte schon den Hut auf, aber sie hieß Amalie Platz nehmen, auf ein Viertelstündchen kam es nicht an. Die Baronin war Münchens etwas überdrüssig.

»Das alte München«, sagte sie, »mit seiner urwüchsigen Behaglichkeit ist fort, das elegante München aber mag ich nicht. Das ist eine Verzerrung. Wenn man das Treiben der großen Welt haben will, dann soll man an die Riviera gehen oder nach Paris. Aber unser gutes München wird dadurch nur verdorben.«

»Ach ja, die Riviera,« sagte Amalie, »da habe ich mich auch außerordentlich wohl gefühlt. Uebrigens, Baronin, ich muß Ihnen doch jetzt noch meinen Dank aussprechen für die guten Lehren, die Sie mir damals gegeben haben. Ich glaube, sie sind auf fruchtbaren Boden gefallen. Ich bin seit der Zeit eine ganz andere geworden.«

Die Baronin lächelte ein wenig, mit ihrer Hutnadel beschäftigt, während sie in den gegenüber befindlichen Wandspiegel blickte. Sie sagte kühl:

»So, das sollte mich freuen, wenn ich Ihnen nützlich gewesen bin.«

Aber sie schien diese mütterliche Teilnahme, die sie vor ein paar Jahren an der ringenden Amélie hatte, der sicher auftretenden Frau Amalie gegenüber verloren zu haben. Sie verabschiedete sich enttäuscht. Wochenlang wartete sie auf den Gegenbesuch der Baronin. Kurz bevor diese München für einige Zeit verließ, erschien sie endlich, um Abschied zu nehmen, und bei dieser Gelegenheit war sie wieder etwas herzlicher als das letzte Mal.

»Sie sind ein glückliches Kind,« sagte sie, während sie sie beim Abschied küßte, »alles macht Ihnen noch soviel Spaß. Wie geht's denn übrigens mit der Malerei?«

»Ach Gott,« seufzte Amalie, »daran habe ich in der letzten Zeit gar nicht gedacht; ich glaube, mein Talent ist nicht besonders groß.«

»Nun, dann ist es wenigstens etwas, wenn Sie es einsehen und nicht drauflosdilettieren, wie die meisten Frauen, die immer das eine vergessen, daß Nichtskönnen noch kein neuer Stil ist.«

Amalie mußte über dieses Wort lachen, und sie erwiderte, schlagfertig zu der neuen Pose übergehend, die Oesterots Einfluß neuerdings in ihr ermutigte:

»Ich glaube sogar, mein Stil ist, daß ich nichts kann.«

»Nun, bei Ihnen ist es sogar ein sehr hübscher und liebenswürdiger Stil,« erwiderte die Baronin und verabschiedete sich.

 

Große Genugtuung gewährte es Frau Dr. Cornelius, daß viele Menschen Zutritt zu ihren Jours suchten, denen sie ihn nicht gewähren wollte. O nein, sie wünschte nicht die ganze Bohème in ihren Räumen zu haben; sie dachte exklusiv zu bleiben. Zu denen, die sich an sie herandrängten, gehörte erstaunlicherweise auch ihre frühere Schwägerin Lina. Kaum war diese in den Besitz der Abfindungssumme gekommen, die ihr Hermann notariell zugesichert hatte, als sie fand, daß es ihrer Lage nicht mehr entsprechend sei, sich dem Photographieren zu widmen; sie fühlte, daß ihre Neigung sie eigentlich immer zur Bühne getrieben habe, und sie fand auch bald einen Lehrer, der, nachdem er sich über ihre Verhältnisse erkundigt hatte, in ihr eine berufene Vertreterin der Salome und der Hedda Gabler entdeckte. Nun lebte auch sie äußerlich geordnet, und es folgte für sie eine glückliche Zeit. Lernbegierig und fleißig wie sie war, machte sie gewisse Fortschritte, ihr Lehrer war zufrieden, und als werdende Schauspielerin fühlte sie sich sehr gehoben. Besonders die Mutter war stolz auf sie, und gutmütigerweise war man der Meinung, daß doch jetzt eigentlich gar kein Grund mehr vorliege, Hermann oder gar dessen Schwester zu grollen. Man zeigte sich großmütig, begrüßte sie an dritten Orten, und Lina duzte Amalie ohne weiteres noch wie früher und hoffte immer auf eine Einladung. Aber sie fand Schülers gegenüber einen zurückhaltenden Ton wie die Baronin Warnitz ihr gegenüber. Daraufhin gab Lina ihre weiteren Bemühungen auf. Bald nahm sie eine Verpflichtung bei einer kleinen Bühne an, wo sie ihre Rollen nicht schlechter spielte, als die meisten.

So verging wieder ein Jahr.

Anfangs war Amalie glücklich gewesen, aber dann kam doch wieder das alte Gefühl der Leere in ihr auf, und nun war sie wieder alles überdrüssig. Sie reiste noch einmal für ein paar Wochen an die Riviera, da sich die Erinnerung an ihren letzten dortigen Aufenthalt zu einem glänzenden Bild verklärt hatte, kam aber dann ebenso unbefriedigt zurück; sie schlief schlecht, fühlte sich wieder blutarm und immer müde und abgespannt. Inzwischen aber war sie achtundzwanzig Jahre alt geworden, und es lagen keine neuen Lebensüberraschungen mehr vor ihr. So verfiel sie bisweilen in vollkommenen Trübsinn, und wieder klagte sie die Welt an und schmiedete Theorien darüber, wie es eigentlich sein müßte. Was ihr im Grunde fehlte, war der Mann. Aber der Gedanke, ihre freie, unabhängige Lage einem zu »opfern«, schien ihr ganz und gar unmöglich.

»Ja, wenn ich einmal die wahre, große Leidenschaft fühlte,« sagte sie sich, »dann würde ich natürlich mit geschlossenen Augen in das Leben hineinspringen.«

Dies war ein Ausdruck, den Cornelius gelegentlich gebraucht hatte.

Ihre Verehrer hatten auf die Dauer wenig Erfolge. Sie fand sie immer bald komisch. Ernsthafte Männer, die im Leben irgend etwas bedeuteten, sah sie kaum. Lernte sie eben jemand kennen, so konnten ihre Sinne wohl etwas aufflackern, aber wenn der Betreffende sich erst zu erklären wagte, dann war sie wieder kühl und zurückhaltend und konnte sich zu keinem Ja entschließen. Dabei fühlte sie sich im Grunde einsam, hatte, wenn sie allein war, öfter das Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Aussprache, aber der Wirklichkeit gegenüber versagten ihre Gefühle immer vollkommen. Hie und da dachte sie an Erwin Dorn; der aber war nicht mehr in München.

»Es ist unser Schicksal,« sagte sich Amalie, »daß wir beide immer aneinander vorbeigehen sollen, wir hätten uns vielleicht das große Glück bringen können.«

Sie machte äußerlich alles mit, was der Tag bot, besuchte nach wie vor Theater und empfing bei sich, konnte sich auch in Gesellschaft hie und da noch ganz gut unterhalten, aber die innerliche Erstarrung in ihr schritt immer weiter fort.


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